“Da ihrem Kind jetzt schon so viele Jahre nichts passiert ist, handelt es sich offensichtlich um eine milde Ausprägung des MCAD-Mangels. Dann können sie das ganze jetzt auch so langsam vergessen!”
Diese tatsächlich aus dem Munde vermeintlich erfahrener Stoffwechselärzte erhaltene Aussage wurde mir über die Jahre hinweg mehrfach von verwunderten und teilweise auch verunsicherten Eltern mitgeteilt. Die Verwunderung rührte daher, dass es sich dabei in den meisten der mir mitgeteilten Fälle um Kinder handelte, bei denen die nach dem auffälligen Screening durchgeführten Untersuchungen tatsächlich die häufigste und für den klassischen, also schweren MCAD-Mangel verantwortliche Mutationskombination c.985a>g homozygot (K329E bzw. Lys329Glu homozygot) aufgespürt hatten. Oftmals war die sich schon alleine dadurch ausreichend begründende Schwere des vorliegenden MCAD-Mangels auch noch durch die Messung der Residualaktivität der Enzyme mit Werten von 0% bis maximal 2% zusätzlich bestätigt worden. Und während die Eltern dieser Kinder in den ersten paar Lebensjahren ständig von den Ärzten eindringlich davor gewarnt wurden, die Nahrungspausen bloß nicht zu lang werden zu lassen, hieß es jetzt plötzlich, dass es dann doch nur ein milder MCAD-Mangel sei, sie überhaupt nichts mehr zu beachten brauchten – auch keine maximalen Nüchternzeiten – und sie das alles einfach aus ihren Gedanken streichen sollten?
Eigentlich eine verlockende Zukunftsperspektive – keine Frage! Wenn bisher nichts passiert ist, wird auch weiterhin nichts passieren. Das Kind ist aus der riskanten Phase rausgewachsen. Die Schwere des MCAD-Mangels leitet sich direkt aus der Häufigkeit der erlebten schwierigen, wenn nicht gar kritischen Phasen ab. Wenn das Kind in seinen ersten paar Jahren behandlungsbedürftige Stoffwechselentgleisungen erlitten hat – und nur dann – ist das wohl eine schwere MCAD-Ausprägung. Wenn dagegen all die Jahre bis zum Schuleintritt nichts dergleichen passiert ist, dann hat das Kind wohl eine milde Ausprägung abbekommen.
Tatsächlich ist wirklich jeder einzelne Punkt des vorangegangenen Absatzes falsch! Leider haben es aber einige Ärzte genau so den von ihnen betreuten Familien mitgeteilt – aus voller Überzeugung, mit ihren falschen Aussagen richtig zu liegen. Betrachten wir die enthaltenen Behauptungen im Einzelnen, beginnen aber mit der alles entscheidenden Feststellung:
Grundlegender Fakt: Die Schwere des MCAD-Mangels hängt von den beiden beteiligten Mutationen ab – von nichts anderem!
Natürlich auch von der Residualaktivität, also der Leistungsfähigkeit der Enzyme, aber da diese unmittelbar von der “Bauform” der Enzyme bestimmt wird, sind es letzlich einzig und alleine die Mutationen, welche die Schwere des MCAD-Mangels ausmachen. Die Residualaktivität ist einfach nur das, was man im Labor tatsächlich zahlenmäßig messen kann. In einem anderen Thema der FAQs wird darauf eingegangen, wie die in den beiden MCAD-Genkopien hinterlegten beiden Enzym-Baupläne aufgrund der durch die eine bzw. die andere Mutation hineingeratenen Fehler dazu führen, dass durch beide Genkopien beschädigte Enzyme gebildet werden.
- Kurz gesagt werden bei Carriern durch die eine unbeschädigte Genkopie vollkommen normale MCAD-Enzyme gebildet, sodass es keine Rolle spielt, dass durch die zweite, beschädigte Genkopie mehr oder weniger stark funktionsuntüchtige MCAD-Enzyme entstehen. Durch die bei Bedarf stark gesteigerte Enzymproduktion gibt es neben vielen kaputten und dadurch nutzlosen MCAD-Enzymen auch immer genügend voll funktionsfähige Enzyme, die problemlos ausreichen, um die gesamte Menge der bereits bis auf mittelkettige Restlänge verkürzten Fettsäuren weiter aufzuspalten.
- Bei Menschen mit von den Eltern geerbten zwei unterschiedlichen Genmutationen (compound heterozygot), kommt es auf die jeweiligen Mutationen an, wie leistungsfähig die anhand ihres Bauplans gebildeten zwei Arten von MCAD-Enzymen noch sind. Bei der zweithäufigsten Mutationskombination c.985a>g/c.199t>c werden durch die c.985a>g nur extrem stark beschädigte Enzyme gebildet, die überhaupt nicht imstande sind, die mittelkettigen Fettsäuren weiter zu verarbeiten. Dadurch fallen ihre 50% Anteil an der Gesamtaktivität der MCAD-Enzyme schon mal vollständig unter den Tisch. Bei den Residualaktivitätsmessungen werden zwar manchmal noch so etwa 0,25 bis 0,5% Restaktivität gemessen, allerdings ist das eine für den Vorgang der Fettsäurenoxidation vollkommen irrelevante Zahl – obwohl es sich im ersten Moment besser anhört als 0%. Die c.199t>c-Mutation dagegen führt zu einer zwar veränderten, dem Original aber doch noch so ähnlichen Bauform der MCAD-Enzyme, dass diese immer noch einen großen Anteil der Arbeit erledigen können. Ihr Anteil an der Gesamtaktivität beträgt zwar statt der normalen 50% “nur” etwa 18-20%, so dass es insgesamt auf eine Enzymaktivität von 0% + 20% hinausläuft, aber auch hier gilt, dass im Bedarfsfall (also während der Fettsäurenoxidation) das Überangebot der in den Mitochondrien gebildeten Enzyme dafür sorgt, dass der Großteil der mittelkettigen Fettsäuren ganz normal weiter aufgespalten werden kann. Die vielen aufgrund der c.199t>c nur leicht veränderten MCAD-Enzyme erledigen die ganze Arbeit, während die genau so große Anzahl der durch die c.985a>g stark beschädigten Enzyme einfach nutzlos daneben steht. Nachdem die Arbeit erledigt ist, werden die dann nicht mehr benötigten MCAD-Enzyme auch wieder in ihre Bestandteile, die Aminosäuren zerlegt, um diese dann wieder an anderer Stelle zu den dann dort benötigten anderen Enzymen zusammenzusetzen.
- Bei Menschen mit homozygoten Genmutationen werden von beiden Bauplänen identische Enzyme gebaut, die dann in Abhängigkeit von der vorliegenden Mutation alle gleichermaßen stark beschädigt sind. Es scheint dann zwar so, als würde es nur eine einzige Form von Enzymen aus einem einzigen Bauplan einer einzigen Genkopie geben, aber tatsächlich werden beide MCAD-Genkopien in gleicher Weise für die Produktion von MCAD-Enzymen herangezogen. Und nur deshalb, weil beide Genkopien den gleichen Fehler im Bauplan aufweisen, werden alle Enzyme mit dem gleichen Grad an Funktionsfähigkeit bzw. -unfähigkeit gebildet. Um nochmal die im vorangegangenen Absatz erwähnten Mutationen heranzuziehen – wird bei einem Kind die Mutation (eigentlich die Mutationen) c.199t>c homozygot festgestellt, verdoppelt sich seine Restaktivität auf 36-40%, da es dann im Gegensatz zum obigen compound heterozygoten Beispiel keine nutzlosen MCAD-Enzyme gibt, sondern sowohl die von der väterlichen also auch die von der mütterlichen Genkopie gebildeten Enzyme ihre jeweiligen 20% anstelle der normalen 50% beisteuern. Insgesamt werden bei einem Kind mit c.199t>c homozygot somit 20%+20% = 40% gemessen. Aufgrund der Häufigkeit, mit der die c.199t>c-Mutation in Kombination mit der c.985a>g gefunden wird, dürft es auch viele Fälle geben, in denen diese Mutation wie beschrieben homozygot vorliegt. Allerdings sind diese 40% Restaktivität bereits in einem Bereich ganz nahe dem eines Carriers, so dass die betreffenden Kinder mit sehr großer Wahrscheinlichkeit in Rahmen des Screenings gar nicht erst auffällig werden, allerhöchstens in Screeningzentren mit ganz extrem niedrig gewählten Grenzwerten, durch die auch Carrier schon unter ganz ungünstigen Umständen in den ersten Tagen nach der Geburt gefunden werden. Liegt bei einem Menschen aber c.985a>g homozygot vor, sind beide Baupläne in gleicher Weise stark beschätigt, so dass ausschließlich funktionsunfähige MCAD-Enzyme ohne jegliche relevante Restaktivität gebildet werden. Obwohl sich auch hier die Restaktivitäten der aus der mütterlichen und der väterlichen Genkopie gebildeten Enzyme addieren und somit auf 0,5% bis maximal 1% erhöhen, ist dies nach wie vor keine Leistung, durch die während der angekurbelten Fettsäurenoxidation nennenswerte Mengen an mittelkettigen Fettsäuren zur Energiegewinnung weiter verkürzt werden könnten.
1. falsche Behauptung: Wenn bisher nichts passiert ist, wird auch weiterhin nichts passieren.
Früher kam es bei Neugeborenen und Kleinkindern mit MCAD-Mangel häufig bereits in den ersten paar Lebensmonaten zur einer teils bleibende Schäden verursachenden, wenn nicht sogar direkt tödlich endenden Stoffwechselkrise. Dies passierte vor allem deshalb, weil es noch kein Screening auf MCAD gab und daher weder die Eltern, noch die den eingetretenen Notfall behandelnden Ärzte etwas über die Ursache dieses “Anfalls” ahnten und daher oft nicht schnell genug richtig reagieren konnten. Heute verhält es sich glücklicherweise völlig anders, da die Eltern üblicherweise schon wenige Tage nach der Geburt ihres Kindes über diese ihm nicht ansehbare Stoffwechselstörung informiert werden. Durch einen dann bald ausgestellten Notfallausweis können auch andere Ärzte schnell Klarheit darüber bekommen, was bei dem Kind vorliegt, um entsprechend zu reagieren, und auch die Eltern werden bei der Erstinformation und dann auch von ihren Stoffwechselärzten über die Maßnahmen zur Vermeidung gefährlicher Situationen, sowie über im Notfall zu ergreifende Sofortmaßnahmen aufgeklärt.
Diese frühzeitige Aufklärung der Eltern und die dadurch von ihnen konsequent beachteten Regeln bzgl. maximalen Mahlzeitenabständen usw. sind der alleinige Grund, weshalb heutzutage nur noch sehr wenige Familien überhaupt jemals eine solche kritische Situation einer Stoffwechselentgleisung erleben – und dann wissen sie, wie sie sofort zu reagieren haben. Nur aus diesem Grund passiert inzwischen selbst Kindern mit der früher bei fast allen davon Betroffenen schon in den ersten paar Jahren zu einer schwerwiegenden Krise führenden Mutationskombination c.985a>g (K329E) homozygot nichts mehr und die Kinder wachsen somit vom MCAD-Mangel weitgehend unbelastet auf – mal abgesehen davon, dass die gerade in den ersten Jahren zur Sicherheit auf sich genommenen Klinikaufenthalte bei Krankheiten mit Nahrungsverweigerung niemals angenehme Erfahrungen sind.
Nichtsdestotrotz haben Kinder mit c.985a>g homozygot (und anderer Mutationen mit ähnlich schweren Beschädigungen der beiden Enzymformen) nur durch die konsequente Einhaltung dieser Vorsichtsmaßnahmen das Glück unbelastet vom MCAD-Mangel aufzuwachsen und ihn auch später eigenverantwortlich “im Griff” zu haben. Werden diese Maßnahmen mit zunehmendem Alter mehr und mehr ignoriert und dies den Kindern vielleicht schon durch ihre Eltern so vorgelebt, kann sich das ganz schnell ändern. Nochmal zur Erinnerung an das oben Beschriebene: Menschen mit c.985a>g homozygot haben keinerlei normal funktionierende MCAD-Enzyme, sondern bei ihnen endet die Fettsäurenoxidation grundsätzlich bei mittelkettiger Restlänge der Fettsäuren. Warum dies nicht mit einem Achselzucken und dem Denken “Na gut, dann endet es halt etwas früher. Was soll’s?” auf die leichte Schulter genommen werden sollte, ist in dem FAQs-Thema “Was passiert bei einer akuten Entgleisung?” genauer beschrieben, denn die nicht fertig aufgespaltenen Fettsäuren setzen einige weitere für den Körper schädliche Prozesse in Gang, die man unter allen Umständen vermeiden sollte.
Menschen mit c.985a>g homozygot, also der häufigsten und beinahe allerschwersten bekannten Form des MCAD-Mangels, entgleisen heute nicht mehr zwangsläufig im Kindesalter, aber nur deshalb, weil in den wenigen schwierigen Situationen immer alles getan wird, um sie davor zu schützen.
Die Behauptung dieser Ärzte, der Umstand, dass in den ersten Jahren nichts passiert sei, zeige, dass ein Kind also nur eine milde Ausprägung des MCAD-Mangels habe, ist absolut unhaltbar. Es gibt keine milde Form von c.985a>g homozygot, also keine Ausprägung, bei der trotz Vorliegen dieser Mutationskombination die Fettsäurenoxidation noch weitestgehend normal ablaufen würde. Die im Körper eines davon betroffenen Menschen gebildeten MCAD-Enzyme sind Zeit seines Lebens in gleicher Weise nutzlos. Manchmal wird aufgrund der trotz schweren MCAD-Mutationen bisher ausgebliebenen Auffälligkeiten auch von einem “asymptomatischen” MCAD-Mangel gesprochen, was so klingt, als habe der betroffene Mensch zwar einen vermeintlich schweren MCAD-Mangel, aber anscheinend sei er der glückliche Sonderfall, dem trotzdem nichts passieren könne. Auch diese Behauptung, wie auch die Bezeichnung “asymptomatischer MCAD-Mangel” ist schlicht und einfach falsch, denn es handelt sich dann lediglich um einen “vorsymptomatischen” Patienten. Wenn man seinen durch die Gene definierten schweren MCAD-Mangel als Jugenlicher, junger oder älterer Erwachsener irgendwann ignoriert und es aufgrund ungünstiger Umstände irgendwann im Leben über mehrere Tage hinweg immer wieder zu einer sehr langen Nüchternphase oder einer zu geringen Nahrungsaufnahme kommt, kann die zuvor nie erlebte Stoffwechselentgleisung ganz schnell Realität werden. In so einem Fall kann man dann nur hoffen, dass der betreffende Mensch ausführlich genug über seine Stoffwechselstörung informiert wurde, dadurch weiß, wie er selbst in so einer Situation handeln muss und dann auch noch in der Lage ist, dies zu tun.
2. falsche Behauptung: Das Kind ist aus der riskanten Phase rausgewachsen.
Manche Ärzte befassen sich schon sehr lange mit dem Thema Stoffwechselstörungen, aber da der MCAD-Mangel sehr selten ist und andere Stoffwechselstörungen wie Diabetes oder auch Adipositas (Fettsucht) sehr viel häufiger in den Stoffwechselambulanzen der Unikliniken behandelt werden, sind manche dieser Ärzte bzgl. des MCAD-Mangels anscheinend auf einem sehr veralteten und oftmals auch nur extrem geringen Kenntnisstand. Bei einigen scheint sich das “Wissen” um den MCAD-Mangel immer noch auf die reinen Anfänger-Inhalte der früher mal in den Kliniken an die Familien verteilten MCAD-Broschüre von Milupa Metabolics zu beschränken (die neuere Broschüre von Nutricia ist im Vergleich dazu deutlich besser!). In dem alten Heftchen war eine Tabelle mit empfohlenen Nüchternzeiten enthalten, die bei den Zeitangaben mit einem Alter von 7 Jahren endete. Dadurch kam bei vielen Eltern und anscheinend auch bei Ärzten, deren Kenntnisse sich nur auf dieses Heftchen beschränkten, die Vorstellung auf, der MCAD-Mangel sei nur im Vorschulalter von Bedeutung und nach dem Erreichen des Alters von 7 Jahren sei die Beachtung von maximalen Mahlzeitenabständen nicht mehr relevant. Das mag vielleicht noch auf Kinder mit einwandfrei nachgewiesenem mildem MCAD-Mangel (mit vergleichsweise hoher Restaktivität) in gewisser Weise zutreffen, weil die anfängliche Besorgnis der Eltern aufgrund der dann schon jahrelangen Erfahrung, dass das Kind selbst bei noch so schwierigen Krankheitszeiten mit kaum als solcher zu bezeichnender Nahrungsaufnahme trotzdem keine Auffälligkeiten gezeigt hat, deutlich nachgelassen hat und allmählich dem Vertrauen in die Milde des MCAD-Mangels gewichen ist. Rausgewachsen ist es aber nicht, denn seine Genmutationen und die dadurch verursachten Funktionseinschränkungen der Enzyme bleiben für immer bestehen.
Für Kinder mit c.985a>g homozygot gibt es daher erst recht kein Rauswachsen. Die Darstellung der Nüchternzeiten-Tabelle in dem MCAD-Heftchen war schon damals falsch und schlecht, ebenso wie die aus der gleichen Tabelle fälschlicherweise abgeleitete Interpretation, die für die Nacht genannten langen Zeitspannen von 8 und mehr Stunden würden auch auf den Tag anwendbar sein. Während des Tages verbraucht jeder Mensch durch seine Bewegungen und alleine schon durch das Wachsein viel mehr Energie als während des Schlafs. Eigentlich hätte daher jedem auch nur mal kurz über diese Tabelle nachdenkenden Arzt klar sein müssen, dass während des Tages viel kürze Nüchternzeiten gelten mussten, zu der die Tabelle aber leider keine Aussage gemacht hat.
3. falsche Behauptung: Die Schwere des MCAD-Mangels leitet sich direkt aus der Häufigkeit der erlebten schwierigen, wenn nicht gar kritischen Phasen ab. Wenn das Kind in seinen ersten paar Jahren behandlungsbedürftige Stoffwechselentgleisungen erlitten hat – und nur dann – ist das wohl eine schwere MCAD-Ausprägung.
Auf diese Behauptung, bzw. diese Denkweise muss eigentlich nicht weiter eingegangen werden, da bereits oben (“Grundlegender Fakt”) beschrieben wurde, dass die Schwere des MCAD-Mangels durch die Gene und den damit verbundenen Grad der Nicht-Funktionalität der produzierten Enzyme eindeutig vorgegeben ist. Die Vorstellung, erst aufgrund bereits erlebter schwieriger oder gar kritischer Situationen dem MCAD-Mangel eines Kindes eine gewisse Schwere zuschreiben zu können, ist schlicht und einfach gefährlicher Blödsinn! Wenn ein (Stoffwechsel-)Arzt diese Behauptung äußert, ist das ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass er vom MCAD-Mangel einfach überhaupt keine Ahnung hat und die Eltern täten im Interesse ihres Kindes gut daran, sich eine andere Stoffwechselambulanz zu suchen.
4. falsche Behauptung: Wenn all die Jahre bis zum Schuleintritt nichts dergleichen passiert ist, dann hat das Kind wohl eine milde Ausprägung abbekommen.
Diese Behauptung scheint auf den ersten Blick einfach nur die logische Fortsetzung der 3. falschen Behauptung zu sein, jedoch birgt sie ein noch viel größeres Gefahrenpotential, denn sie hat eine nicht zu unterschätzende emotionale Komponente! Jede Familie eines Kindes mit MCAD-Mangel wünscht sich nämlich genau das aus dem Munde eines Stoffwechselarztes zu hören: Ihr Kind hat zwar einen MCAD-Mangel, aber dann doch nur eine milde Form, die sie genaugenommen ignorieren können. Wenn man mal so ganz grob erklären möchte, was die Verwendung des kleinen Adjektivs “mild” in den Befunden für einen gewaltigen Unterschied ausdrückt, dann könnte man sagen, das ein Befund ohne “mild” im Text ausdrückt, dass man von ärztlicher Seite aus das Risiko für potenziell gefährliche Stoffwechselentgleisungen für durchaus gegeben hält. Ohne “mild” ist das ein ganz normaler, klassischer MCAD-Mangel, wie er früher häufig erst durch das Eintreten einer schweren Krise mit anschließenden genauen Untersuchungen diagnostiziert wurde. Es liegen bei dem Kind für ihr Entgleisungsrisiko bekannte Genmutationen vor und es ist daher zu erwarten, dass es ohne die strikte Beachtung der den Eltern empfohlenen Regeln irgendwann im Leben dieses Menschen zu einer Situation kommen kann, in der ihm der Stoffwechsel entgleist und ein durchaus gefährlicher Notfall eintreten kann.
Mit dem kleinen Wörtchen “mild” im Text wird aber etwas völlig anderes ausgedrückt! Mild verwendet man im Befund dann, wenn man sich nicht sicher ist, ob das Risiko einer gefährlichen Stoffwechselentgleisung aufgrund der gefundenen Mutationen tatsächlich existiert. Zum einen gibt es dafür Computerprogramme, die das Aussehen der beiden Formen von MCAD-Enzymen aufgrund der gefundenen Basen-Sequenz berechnen können. Jeweils drei Basen zusammen bestimmen, welche Aminosäuren hintereinander als Kette zusammengefügt werden und sich zur dreidimensionalen Struktur des Enzyms zusammenfalten. Je nach Mutation stimmt etwas an dieser Aminosäurenkette nicht ganz und dadurch faltet sie sich unter Umständen nicht so zusammen, dass im Inneren des Enzyms die Aufspaltung der mittelkettigen Fettsäuren normal vonstatten gehen kann. Durch die Berechnung der zu erwartenden Struktur kann das Programm eine gewisse Einschätzung abgeben, ob es sich um einen schwerwiegenden Defekt handelt oder ob ein Restnutzen bleibt. An dieser Stelle kann dann schon erstmals die Vermutung aufkommen, dass die anhand einer vielleicht noch unbekannten Mutation im Gencode gebildete Hälfte der MCAD-Enzyme noch einigermaßen funktionstüchtig ist. Wieviel genau die Gesamtheit der Enzyme noch zu leisten in der Lage ist, kann dann zahlenmäßig erst durch die Residualaktivitätsanalyse ermittelt werden, auch wenn der betreffende MCAD-Mangel möglicherweise bereits durch die Computersimulation als “mild” eingeschätzt wird. Wenn dann die Restaktivität der Enzyme insgesamt wieder relativ hoch ist, also im Bereich der bereits als “mild” bekannten Varianten liegt, wird diese Form dann ebenfalls als “mild” eingestuft.
Letztlich drückt die Verwendung des Adjektivs “mild” im Befund aus, dass man nicht guten Gewissens völlige Entwarnung geben kann – weil im Unterschied zu Carriern mit nur einer Mutation und einem normalen Gen bei dem Kind nun mal eindeutig zwei beschädigte, also nicht dem Wildtyp entsprechende Genkopien gefunden wurden. Allerdings ist aufgrund wenigstens mal einer der beiden Genmutationen durch die Computersimulation, die Residualaktivitätsanalyse und die bisherigen Erfahrungen zu erwarten, dass sich diese somit gewissermaßen nur auf dem Papier existierende Form des MCAD-Mangels nicht im täglichen Leben des betroffenen Kindes auswirken dürfte. Gerade bei der häufig aufgefundenen Kombination c.985a>g/c.199t>c weiß man nun mal, dass diese Mutation c.199t>c erst durch die genetischen Untersuchungen von im Screening leicht auffälligen Kindern entdeckt wurde, aufgrund der Häufigkeit des heutigen Auffindens aber auch schon in den vielen Jahrzehnten vor der Einführung des Screenings mit ähnlicher Häufigkeit in allen Altersklassen der Bevölkerung vorhanden gewesen sein muss. Da niemals jemand mit einer Mutationskombination an der diese c.199t>c beteiligt war (selbst wenn auch da schon die zweite Mutation die schwere c.985a>g war), eine behandlungsbedürftige Stoffwechselkrise erlitten hat, wurde sie aber auch nie zuvor gefunden. Der Ausdruck “milder MCAD-Mangel” im Befund bedeutet im Langtext: “Eigentlich haben wir außer dem durch die niedrigen Grenzwerte leicht auffälligen Screening und den danach gefundenen 2 Mutationen keinen wirklichen Hinweis darauf, dass ihr Kind tatsächlich einen irgendwie gefährlichen MCAD-Mangel hat, aber weil man sich bei medizinischen Sachverhalten nie so ganz sicher sein kann, sind Sie besser trotzdem etwas vorsichtig! Wenn Sie sich auch immer an die maximalen Nüchternzeiten halten und auch sonst alles so machen, wie wir es als Vorsichtsmaßnahmen für den schweren MCAD-Mangel empfehlen, ist ihr Kind auf jeden Fall auf der ganz sicheren Seite!”
Der Inhalt dieses letzten Satzes schwingt auch immer in der Vorstellung der Eltern von Kindern mit einwandfrei gefundenen c.985a>g homozygot Mutationen mit, wenn ihre Ärzte aussprechen, dass ihr Kind aufgrund des Ausbleibens irgendwelcher problematischer, geschweige denn kritischer Situationen ja anscheinend nur eine milde “Ausprägung” des MCAD-Mangels habe, also ebenfalls das Glück habe, eine dann doch nur auf dem Papier existierende Form des MCAD-Mangels zu haben, die man aber im Laufe der Jahre mehr und mehr ignorieren und irgendwann vielleicht völlig aus dem Gedächtnis streichen könne.
So eine Aussage hört man gerne und wünscht sich aus tiefstem Herzen, dass diese stimmen möge. Warum sollte man auch daran zweifeln? Schließlich hat es ein Stoffwechselarzt gesagt und der wird es ja wohl auch wissen! – Nein, leider nicht! Diese Aussage ist genauso großer Blödsinn, wie die, dass sich die Schwere eines MCAD-Mangels nur durch das zwangsläufige Eintreten von Engleisungen bestätigt. Aber gerade weil man diese letzte Aussage so gerne hört und sich mit aller Kraft an die Hoffnung klammert, dass sie auch stimmen möge, ist es so schwierig, diesen Eltern zu verdeutlichen, dass dies ein gefährlicher Irrtum ist, und ihr Kind mit c.985a>g homozygot niemals im Leben darin nachlassen darf, auf regelmäßige Nahrungsaufnahme zu achten, ständig die Signale seines Körpers zu beobachten und in richtiger Weise zu interpretieren, immer den Notfallausweis mitzuführen und sich auch als erwachsener Mensch in ganz schweren Fällen von Magen-Darm-Infekten notfalls im Krankenhaus mittels Infusionen versorgen zu lassen!
Die c.985a>g homozygot ist die häufigste, aber nicht einzige schwere Mutationskombination
Die MCAD-Mutationsvariante c.985a>g homozygot ist hier nur als Beispiel gewählt, weil es sich dabei nun mal um die am weitesten verbreitete Form handelt, und es im Vergleich dazu nur sehr wenige Menschen gibt, die eine vergleichbar schwere Form unter Beteiligung wenigstens einer anderen Mutation haben. In dem Artikel zu den für MCAD verantwortlichen Mutationen gibt es weiterführende Erläuterungen, welche anderen Mutationsarten (z.B. Deletions, Insertions, vorzeitige Stop-Codons, Frameshift-Mutationen) ebenfalls so gut wie immer zu einem vollständigen Funktionsverlust der anhand dieses beschädigten Bauplans gebildeten Enzyme führen. Ist neben der meistens vorhandenen c.985a>g eine dieser Mutationen im Befund genannt, handelt es sich mit fast 100%iger Sicherheit ebenfalls um eine gleichermaßen schwere Mutation, so dass auch diese Kombination zu einer messbaren Restaktivität von vermutlich 0-1% führen wird.
Fazit
Die Variante c.985a>g homozygot, auch bekannt als K329E homozygot oder ausgeschrieben als Lysin329Glutamat homozygot darf niemals im Leben auch nur ansatzweise als milder MCAD-Mangel betrachten werden. Es war schon immer und ist auch heute noch die “Hochrisiko-Variante”, die nur aufgrund der frühen Diagnose und der danach konsequenten Befolgung der Sicherheitsmaßnahmen durch die Eltern und später auch der dann selbstverantwortlichen Kinder nur noch ganz selten zu schwerwiegenden Krisen führt. Bei deren Nichtbeachtung kann es aber jederzeit im Leben, egal ob mit 8, 18, 40 oder 90 Jahren jederzeit zu einer Situation kommen, in der der Fettstoffwechsel in eine Entgleisung rutscht, die zu bleibenden Hirnschädigungen und im schlimmsten Fall zum Tod führen kann. Es ist völlig normal im Leben jedes Betroffenen bzw. jeder betroffenen Familie, dass man sich im Laufe der Jahre mehr und mehr daran gewöhnt und immer entspannter damit umgeht, aber es darf niemals so weit kommen, dass man den MCAD-Mangel verdrängt und bewusst viel zu lange Nüchternzeiten oder eine viel zu geringe Nahrungsaufnahme bis hin zu regelrechten Hungerdiäten in Kauf nimmt.