Was passiert im Körper während einer akuten Entgleisung?

Alle seitens der Stoffwechselexperten genannten Empfehlungen bzgl. maximaler Nüchternzeiten, Carnitingaben, Krankenhausaufenthalte mit Infusionen im Krankheitsfall, usw. verfolgen nur ein Ziel: die im folgenden aufgeführten Entgleisungseffekte zu vermeiden, da diese im Zusammenspiel zu sehr schweren Krankheitsverläufen mit Bewusstlosigkeit, Koma, Organversagen und schließlich auch dem Tod führen können. Diese Symptome können bei Auftreten eines Energiemangels schon lange vor einem per Blutzuckermessgerät feststellbaren Absinkens des Blutzuckerspiegels und einer als solche zu bezeichnenden Hypoglykämie einsetzen.

Toxische Stoffwechselzwischenprodukte

Auch wenn durch den MCAD-Mangel nur wenige Ketone (siehe vorangegangene Frage) erzeugt werden können, werden doch eine große Menge Fettsäuren aus dem Fettgewebe gelöst und “angeknabbert”. Die übrig bleibenden mittelkettigen Reste werden an Carnitin gekoppelt, und als mittelkettige “Acylcarnitine” aus den Mitochondrien abtransportiert, in den Blutkreislauf abgegeben und somit überallhin transportiert. Diese Acylcarnitine wirken toxisch − besonders auf Gehirnzellen. Je länger so ein Carnitin-Fettsäuren-Molekül ist, desto größer die Toxizität. Die massive Anhäufung mittelkettiger Acylcarnitine führt während einer über längere Zeit nicht gezielt behandelten Entgleisung schließlich zum Koma und bleibenden Gehirnschädigungen.

Verlust von Coenzym A und Carnitin

Ein weiteres Problem mit dem MCAD-Mangel stellt sich jedoch schon etwas früher ein. Bevor die in die Mitochondrien transportierten Fettsäuren überhaupt “angeknabbert” werden können, müssen sie mit einem bestimmten chemischen Stoff, dem Coenzym A (“CoA”) aktiviert werden. Dieses CoA-Molekül wird normalerweise nach getaner Arbeit wieder abgespalten und steht im Körper wieder für eine Vielzahl weiterer chemischer Vorgänge an verschiedenen Stellen zur Verfügung. Beim Abbruch der Fettsäuren-Aufspaltung bei mittelkettiger Länge werden diese Fettsäurenreste mitsamt des zu dem Zeitpunkt noch daran gekoppelten CoAs an Carnitin gebunden und wie zuvor beschrieben als toxisches Acylcarnitin in Umlauf gebracht. Nicht nur das für den Transport durch die Mitochondrienmembran benötigte Carnitin kann auf diese Weise zur Neige gehen, sondern auch das wichtige Coenzym A.

Anstauung von Ammoniak

Damit ist es allerdings noch nicht getan. Im menschlichen Körper werden mit der Nahrung aufgenommene, aber nicht direkt benötigte Proteine, im Gegensatz zu Zucker und Fett nicht gespeichert, sondern ausgeschieden. Dies geschieht dadurch, dass sie zunächst in Ammonium (Ammoniak) aufgespalten, und dann über einen größeren Zyklus zu Harnstoff umgewandelt werden. Ammonium selbst ist hochtoxisch für das Gehirn und wird z.B. zur Bildung der Aminosäure Glutamat benötigt, aus der wiederum andere Aminosäuren synthetisiert werden können. Die sich im Körper anstauenden Acylcarnitine stören jedoch bereits den ersten Schritt des Ammonium->Harnstoff-Stoffwechsels, sodass das toxisch wirkende Ammoniak nicht abgebaut wird, sondern sich im Körper ansammelt und zur Anschwellung des Gehirns führt.

Rapider Muskelzerfall

An dieser Stelle kann man sich die Frage stellen, woher denn die zu Ammoniak verarbeiteten Proteine kommen sollen, wenn “Nüchternphase” ja gerade bedeutet, dass ein MCAD-Patient überhaupt nichts isst. Auch wenn man über längere Zeit keine Nahrung zu sich nimmt, hat der Körper nach einigen Stunden wieder neuen Bedarf an Proteinen, da diese, wie zuvor erwähnt, nicht gespeichert werden. Zu diesem Zweck holt sich der Körper dann einfach die Proteine von den Stellen, an denen sie noch vorhanden sind. Er baut Muskeln ab und transportiert die frei werdenden Proteine zu den Stellen, an denen sie benötigt werden. Während einer laufenden Entgleisung erfolgt dieser Muskelabbau jedoch nicht an den tatsächlichen Bedarf angepasst, sondern völlig unkontrolliert. Es kommt zu einem regelrechten Muskelzerfall, und die dabei freigesetzten viel zu großen Mengen an Proteinen werden wiederum zu Ammoniak umgewandelt. Der Muskelzerfall (Rhabdomyolyse) erstreckt sich vor allem auf die “quergestreiften” Muskelfasern, wie sie in der Skelettmuskulatur, dem Herzen und dem Zwerchfell vorliegen. Ein schon deutlich fortgeschrittener Muskelzerfall zeigt sich z.B. an einer Braunfärbung des Urins, die von der Freisetzung des in den zersetzten Muskelfasern vorhandenen Farbstoffs Myoglobin herrührt.

Leberverfettung

Darüber hinaus stören die Acylcarnitine den ohnehin schon aufgrund des MCAD-Mangels eingeschränkten Fettstoffwechsel in der Leber. Dieser zusätzlichen Beeinträchtigung der normalen Leberfunktion versucht der Körper durch verstärkte Ausschüttung von Leber-Enzymen entgegenzuwirken. Diese bewirken einen ständig steigenden Transport von Fettsäuren in die Leber hinein, sodass es innerhalb weniger Stunden zu einer massiven Leberverfettung kommt. Diese ist jedoch reversibel, wenn rechtzeitig die notwendigen Gegenmaßnahmen getroffen werden.

Bei einer Entgleisung kommt alles zusammen!

Alles das zusammen macht die Gefährlichkeit einer Stoffwechselentgleisung aus: Der Energiemangel an sich, die Anreicherung toxischer Stoffwechselzwischenprodukte, der sich möglicherweise noch dazu einstellende Carnitinmangel, der übermäßige Verbrauch von Coenzym A, durch den weitere Enzyme und Stoffwechselvorgänge im Bereich der Glukose-Erzeugung beeinträchtigt werden, die Ansammlung des giftigen Ammoniaks, der dies begleitende Muskelzerfall und die rasante Verfettung der Leber.

Das klingt alles jetzt sehr dramatisch, und genauso ist es auch! Die gute Nachricht ist, dass es aufgrund der frühzeitigen Information der Eltern über den bei ihrem Kind vorliegenden MCAD-Mangel in den letzten Jahren zu fast gar keinen auch nur annähernd so schweren Stoffwechselkrisen mehr gekommen ist. Die aufgezählten schlimmen Folgen werden aber nicht durch regelmäßige Blutzuckermessungen verhindert, sondern dadurch, dass die Eltern beim ersten Auftreten offensichtlicher Symptome möglichst schnell den Notarzt verständigten, und sich nicht erst noch auf die nutzlose Suche nach dem Blutzuckermessgerät machen, um sich durch vermeintlich noch gute Werte viel zu lange in Sicherheit zu wiegen.

Die einfachste und zugleich wirksamste Maßnahme, um ein Auftreten der Symptome im Vorfeld zu verhindern, besteht darin, darauf zu achten, dass das Kind, der Jugendliche, der Erwachsene mit MCAD-Mangel niemals zu lange nüchtern ist, sondern regelmäßig Nahrung zu sich nimmt, um nie in einen Energiemangelzustand zu geraten. Dies schließt auch vorsorgliche Krankenhausaufenthalte zwecks Infusionen mit ein.Entgleisung im Körper