Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Residualaktivität und MCAD-Mutationen?

Ja, mit gewissen Abweichungen nach oben und unten bedingt jede einzelne Mutation des ACADM-Gens eine bestimmte Residualaktivität der aus dieser Genkopie (Allel) gebildeten MCAD-Enzyme. Besonders deutlich wird das bei den bekannten schweren Genmutationen, die zu einer fast vollständigen Funktionseinbuße der betreffenden Enzyme führen. Hier spielen sich die aus verschiedenen Blutproben ermittelten Aktivitäten in einem sehr engen Bereich ab.

Zum Grundverständnis der Residualaktivität

Betrachten wir aber zuerst die für einen Menschen ohne MCAD-Mutationen angenommene “normale” Enzymaktivität von 100%. Sind keine Mutationen in den von den Eltern geerbten MCAD-Genen enthalten, bezeichnet man diese beiden Allele als “Wildtyp” oder kurz WT. Diese beiden WT-Allele produzieren MCAD-Enzyme mit einer messbaren Aktivität von insgesamt rund 100%. Natürlich ist dieser Wert nicht einfach so vom Himmel gefallen! Zur Festlegung, welche Enzymaktivität als “normal” und somit als 100%-Marke angesetzt werden kann, wurden von einer größeren Gruppe von Testpersonen, mit einwandfrei genetisch nachgewiesenen zwei WT-Allelen, die Residualaktivitäten bestimmt und der sich aus allen Ergebnissen ergebende Mittelwert als 100%, also als durchschnittliche, normale  MCAD-Enzymaktivität festgelegt. Da sich diese 100% als Summe der Aktivitäten der von der Mutter und vom Vater geerbten WT-Allele darstellen, trägt jedes einzelne dieser beiden Allele somit eine Aktivität von bis zu 50% zu diesem Gesamtergebnis bei – weiter unten etwas mehr dazu, dass das längst nicht immer der Fall ist. Wenn nur eines der beiden Allele ein WT ist und das andere eine Mutation X enthält, kann man also aus einer ermittelten Residualaktivität von z.B. 52% ableiten, dass die 50% vom WT beigesteuert wurden und die andere Mutation X gerade mal 2% Restaktivität aufweist. Wenn nun diese Mutation X mit noch einer anderen Mutation Y und einer Residualaktivität von 10% gefunden wird, lässt sich aufgrund der bereits bekannten ca. 2% für Mutation X nun weiter berechnen, dass die Mutation Y dann mit ungefähr 8% angenommen werden kann, usw.

Zum weiteren Verständnis ist es also wichtig zu wissen, dass sich die Aktivitäten der von den beiden Allelen gebildeten Enzyme immer als Summe beider Varianten darstellen.

Berechnung der Einzelaktivitäten

So wurden für die am häufigsten auftretende Mutationskombination c.985a>g (K329E) homozygot Residualaktivitäten von etwa 0,1% bis 0,9% gemessen, also im Mittel knapp 0,5%. Da bei den betreffenden Menschen zwei Allele mit der K329E-Mutation vorliegen, produziert somit jedes einzelne dieser beiden Allele MCAD-Enzyme mit einer Residualaktivität von genau der Hälfte, also im Mittel nur 0,25%. In gleicher Weise lässt sich auch bei anderen homozygot vorliegenden Mutationen nach dem Ermitteln der Residualaktivität sehr leicht berechnen, welche anteilige Restaktivität diese Mutation bei heterozygotem oder compound heterozygotem Auftreten zur Gesamtaktivität beiträgt. In entsprechenden Studien wurde dann aus einer großen Anzahl vorliegender Daten mit Mutationskombinationen und zugehörigen Residualaktivitäten, nach und nach ermittelt, welche Aktivitäten den einzelnen Allelen zugeschrieben werden können. Das ist nicht besonders kompliziert, sondern mit der Lösung einer mathematischen Gleichung a + b = c vergleichbar. a und b sind die zu zwei unterschiedlichen Mutationen gehörenden Einzelaktivitäten und c die bei dem Patienten mit dieser Mutationskombination gemessene Gesamtaktivität. Sobald der Wert von Aktivität a oder b bekannt ist, kann der noch unbekannte zweite Wert ganz einfach berechnet werden. Mehr ist es nicht. Am Ende erhält man eine stetig wachsende Tabelle für die von den unterschiedlichen Mutationen, also Allel-Varianten verantworteten Einzelaktivitäten.

Stellt man z.B. bei einer neuen, also hinsichtlich ihrer Auswirkungen noch nicht näher beschriebenen Mutationskombination K329E/Y220I eine Residualaktivität von 10% fest, kann aufgrund des bereits bekannten Beitrags der K329E von im Mittel 0,25% berechnet werden, dass die noch unbekannte Y220I ihrerseits die restlichen 9,75% beigesteuert hat. Das ist dann zwar schon mal deutlich mehr, als der Anteil der K329E, aber immer noch ein Bereich, in dem eine Mutation als “severe”, also schwerwiegend klassifiziert wird. Ebenso verhält es sich bei der Mutationskombination Y67H/K239N mit einer Gesamtaktivität von 18%. Aus bereits vielen Untersuchungen der relativ häufigen Y67H (c.199T>C) weiß man, dass Enzyme mit dieser Mutation für sich alleine eine Aktivität zwischen 16% und 21% aufweisen. Insofern kann der Anteil der Enzyme mit der K239N-Mutation auch nur im Bereich von nix bis knapp über 0 liegen. Damit ist diese Mutation eindeutig als schwer zu klassifizieren.

Abweichungen von der starren Berechnungsregel

In der erwähnten Studie, mit einem Vergleich sehr vieler unterschiedlicher Mutationskombinationen und der zugehörigen Residualaktivitäten, hat sich gezeigt, dass es unter den von den einzelnen Mutationen verursachten Restaktivitäten so ziemlich alle Abstufungen von 0% bis ungefähr 34% gibt. So wurde für die Kombination K329E/A218N eine Aktivität von 34% gemessen. Angesichts des Umstandes, dass die K329E zu diesen 34% im besten Fall 0,5% beigetragen hat, kommen also fast die gesamten 34% dieser Kombi von der A218N. Damit ist ihre Residualaktivität fast doppelt so hoch, wie die der schon lange als mild angenommenen Y67H.

Wenn du dir die Diagramme der Studie anschaust, könntest du an einer bestimmten Stelle stutzig werden: Es gibt da eine ganze Reihe Kombinationen von Mutationen mit einem WT-Allel, die in ihrer Gesamtaktivität deutlich unter 50% liegen, in einem besonders gravierenden Fall sogar nur bei 25%. Moment mal! Wenn ein Wildtyp-Allel zu Bildung von vollkommen normal funktionierenden MCAD-Enzymen führt und die mutierten Allele zusätzlich immer noch einen kleinen Teil zusätzlich dazu beitragen, dann müssten doch alle Personen mit WT-Anteil (also alle Carrier) automatisch mindestens mal 50% oder sogar noch deutlich darüber haben, oder?

Das trifft nur in der Theorie zu, in der Praxis nicht, denn es gibt eine ganze Reihe von Umständen, die dazu führen können, dass die aus einem Wildtyp-Allel erzeugten MCAD-Enzyme nicht die volle Leistung bringen oder zu bringen scheinen. Zumindest mal in den Blutproben, die zur Residualaktivitätsanalyse eingesendet werden und dafür eine unter Umständen mehrtägige und “strapaziöse” Reise auf sich nehmen müssen. Eine gewisse Schädigung der Probe kann also schon durch einen sehr langen oder nicht optimal gekühlten Transport passieren, sodass die daraus “gezüchteten” Enzyme nicht in vollem Umfang analysiert werden können. Bevor du jetzt aber denkst, dass die bei deinem Kind auf einen schweren MCAD-Mangel hindeutende Residualaktivität vielleicht einfach nur aufgrund einer beschädigten Blutprobe zustande kam und es daher in Wirklichkeit vielleicht nur einen milden oder sogar gar keinen MCAD-Mangel habe, muss ich diesen Gedankengang gleich bremsen. In den Analyse-Laboratorien kann man schon ziemlich genau erkennen, ob eine eingesandte Blutprobe noch aussagekräftige Ergebnisse liefern kann, oder verdorben und somit unnütz ist.

Darüber hinaus wurden für diese Studie über einen Zeitraum von sechs Jahren eingesandte Blutproben aus Deutschland, Kanada und Italien ausgewertet – allesamt von Neugeborenen, die im NG-Screening hinsichtlich eines MCAD-Mangels auffällig waren. Es handelt sich also trotz der vermeintlich großen Testgruppe um einen nur verschwindend geringen Anteil aller Kinder, die im gleichen Zeitraum in diesen drei Ländern geboren wurden, und von denen fast alle zwei WT-Allele haben und ein kleiner, aber immer noch weitaus größerer Anteil als die in der Studie aufgeführten rund 50 Kinder, die ein WT-Allel und eine andere Mutation aufweisen. Über diese vielen Millionen anderer Kinder kann man keine Aussage treffen, sondern nur für die paar wenigen Kinder, für die in diesem Zeitraum eine Blutprobe mit einem Transportweg von teilweise mehreren Tagen eingesendet wurde. Die 256 Proben umfassende Kontrollgruppe mit zwei intakten WT-Allelen diente nur zur Bestimmung eines durchschnittlichen 100% Standard-Wertes, hat aber vermutlich keine gleichermaßen weiten Wege zurücklegen müssen. Aus dieser Kontrollgruppe wird jedoch ganz deutlich, dass man einem einzelnen WT-Allel im Normalfall einen Beitrag von 50% zuschreiben kann, der halt von den anderen eingesendeten Proben zum Teil nicht mehr ganz erreicht werden kann.

Für die eine Probe, bei der die Residualaktivität trotz des enthaltenen WT-Allels sogar nur bei 25% liegt, wird seitens der Verantwortlichen für die Studie vermutet, dass in Wirklichkeit doch eine Mutation auf dem vermeintlichen WT-Allel vorliegen dürfte, die mit den zur Mutationssuche herangezogenen Verfahren nicht gefunden werden konnte. Es kann z.B. vorkommen, dass bei der Suche nach einzelnen Punktmutationen nichts gefunden wird, weil ein größerer Abschnitt der DNA aufgrund einer Deletion einfach nicht da ist. Wo nichts ist, werden keine Fehler gefunden, aber trotzdem ist das Gen und somit das daraus gebildete Enzym hochgradig geschädigt. Ob ein ähnliches Problem in diesem Fall vorlag, ist nicht beschrieben, aber der niedrige Aktivitätswert legt nahe, dass dieser eine WT halt doch kein echter WT ist.

Ganz allgemein sind die individuellen Abweichungen bei der Beteiligung von WT-Allelen deutlich größer

Der wichtigste Grund aber, weshalb Kombinationen von Mutation mit WT-Allel oftmals unterhalb von 50% liegen, liegt darin, wie der zum Vergleich angenommene Referenzwert von 100% bestimmt wird. Diese 100% sind immer der Mittelwert aus sehr vielen völlig individuellen Einzelaktivitäten. Um es mit einem anderen Bild auszudrücken: bezogen auf den IQ der Menschen in Deutschland kann man mit Recht sagen, dass die Hälfte aller in Deutschland lebenden Menschen unterdurchschnittlich intelligent ist. Das ist nicht beleidigend gemeint, sondern ergibt sich zwingend aus der Festlegung der 100%-Marke für den “normalen” IQ. Gleichzeitig ergibt sich daraus nämlich auch, dass die andere Hälfte der Menschen in Deutschland überdurchschnittlich intelligent ist. Das liegt einfach nur daran, dass die offiziellen, standardisierten IQ-Tests an einer sehr großen Zahl von Menschen ausprobiert wurden und dann die 100er-Marke für die “durchschnittliche” Intelligenz so gelegt wurde, dass genau 50% der Testpersonen schlechter und 50% besser abgeschnitten haben.

Bei der Berechnung der durchschnittlichen “normalen” Residualaktivität der Testpersonen mit zwei WT-Allelen verhält es sich ähnlich. Zur Bestimmung des Mittelwertes können z.B. die Enzymaktivitäten von 199 Testpersonen zusammengezählt und durch 199 geteilt werden, oder man sortiert diese 199 Einzelergebnisse der Größe nach und nimmt als Referenzwert einfach den dann genau in der Mitte liegenden Wert an Position 100. Dann sind 99 Werte kleiner und 99 größer. Das ist der sogenannte Median. Aber wie auch immer der für solche Residualaktivitäten verwendete Referenzwert von 100% bestimmt wird – es gibt unter den dafür herangezogenen Einzelaktivitäten auch deutliche Ausreisser nach unten und oben. So gibt es unter Menschen mit zwei WT-Allelen also sowohl solche, die deutlich unter dem Referenzwert von 100% liegen, als auch solche, die deutlich darüber liegen.

Bei der Bestimmung der Residualaktivität einer einzelnen Person mit einer bestimmten Kombination aus Mutation und WT-Allel, wird aber immer deren individuelle WT-Aktivität mit ins Gewicht fallen, die dann in den seltensten Fällen genau 50% entspricht. Dadurch wird die Berechnung des Aktivitäts-Anteils der bei diesem Menschen dann nur heterozygot vorliegenden Mutation deutlich erschwert.

Beispiel 1: Bei der Untersuchung von vier Menschen mit der Kombination WT/c.199T>C wird eine durchschnittliche Residualaktivität von 70% (bezogen auf den 100%-Referenzwert) festgestellt. Die Einzelergebnisse der vier Testpersonen reichen aber von 60% bis 80%. Bringt die c.199T>C also bei dem einen Patienten tatsächlich nur 10% zusätzlich zu den 50% des WT-Allels und bei der anderen Testperson dagegen sogar 30%? Glücklicherweise handelt es sich bei der c.199T>C auch um eine sogenannte “prävalente”, also vorherrschende Mutation, die bei den im Neugeborenenscreening auffälligen Kindern dann doch so häufig auftaucht, dass man noch andere Vergleiche ziehen kann. Im Zusammenspiel mit der c.985A>G (K329E) werden üblicherweise Werte von um die 20% ermittelt. Da die K329E dazu so gut wie nichts beiträgt, kann man aus einer somit deutlich größeren Datenbasis ableiten, dass die c.199T>C eine relativ konstante Aktivität von ca 20% beisteuert und somit der WT-Anteil bei den dafür heterozygoten vier Testpersonen also nicht genau bei 50% liegen wird, sondern vermutlich von 40-60% reichen muss, so dass insgesamt dann die Bandbreite von 60-80% mit dem Mittelwert 70% herausgekommen ist.

Beispiel 2: Bei der ebenfalls als sehr mild und daher vermutlich nicht krankheitsrelevant angenommenen c.127G>A (E47K) kommt in Kombination mit K329E bei drei Patienten sogar eine mittlere Residualaktivität von 31% (26-36%) heraus, also sogar noch einige Prozentpunkte höher als die c.199T>C. In der Vergleichsgruppe der heterozygoten Carrier für diese c.127G>A Mutation liegt die Residualaktivität allerdings nur bei 65%, also deutlich unter dem Ergebnis der c.199T>C. Wie kann das sein? Hier muss berücksichtigt werden, dass diese 65% nur von einer einzigen heterozygoten Testperson stammen und sich somit deren individuelle Abweichung des Beitrags des WT-Allels voll auf dieses eine Ergebnis auswirkt. Hätte man Vergleichsdaten von noch einigen anderen Carriern dieser Mutation, würde sich dieser eine vergleichsweise niedrige Wert von 65% durch die Hinzuziehung der anderen teilweise deutlich höheren Aktivitätswerte mehr und mehr zu einem passenderen Mittelwert hin korrigieren.

Aus dem gemeinsamen Vorkommen einer bestimmten Mutation zusammen mit der K329E kann man also deren eigenen Aktivätsanteil viel deutlicher ableiten, als aus der Kombination mit einem WT-Allel, dessen Eigenaktivität sowohl ein ganzes Stück unter als auch über den angenommenen 50% liegen kann. Bei der Betrachtung von Tabellen oder Diagrammen (wie z.B. in der zuvor erwähnten Studie) mit Mutationskombinationen und deren Residualaktivitäten, muss man ganz allgemein im Blick behalten, dass es sich bei nur auf einzelnen Personen basierenden Testergebnissen um deutliche Ausreisser handeln kann und die Einschätzung der tatsächlichen mittleren Restaktivität einer bestimmten Mutation umso deutlicher und verlässlicher wird, je mehr Ergebnisse dafür herangezogen werden können.