Als mein Sohn geboren wurde, gab es zwar auch schon eine in den Niederlanden entwickelte Methode zur Ermittlung der verbleibenden MCAD-Enzymaktivität, aber diese Methode konnte aufgrund ihrer Ungenauigkeit nur vage Anhaltspunkte, jedoch keine sichere Differenzierung zwischen den Bereichen “kein MCAD-Mangel / milder MCAD-Mangel / schwerer MCAD-Mangel” liefern.
Früher war nur die Mutationsbestimmung ein anerkanntes Verfahren
Insofern gab es damals (2007) genaugenommen nur die Mutationsbestimmung als etablierte Methode (siehe “Die Diagnose des MCAD-Mangels“), um einen sicheren Nachweis des MCAD-Mangels zu erbringen und darüber hinaus vielleicht auch noch eine Aussage über dessen Schweregrad zu ermöglichen. Es war eigentlich ganz simpel: Falls die häufigste Mutation (K329E) in doppelter Ausprägung oder in Kombination mit einer anderen Mutation gefunden wurde, die zuvor schon mal im Rahmen einer erfolgten Entgleisung entdeckt worden war, musste es sich zwangsläufig um einen schweren MCAD-Mangel handeln, weil aus beiden Genkopien nur hochgradig beschädigte Enzyme gebildet werden konnten. Umgekehrt ließ sich aus dem Auffinden von bislang nicht in Erscheinung getretenen Mutationen (auch in Kombination mit einer als schwer bekannten Mutation auf der anderen Genkopie) die Vermutung ableiten, dass es sich um einen Defekt handeln könnte, der das daraus gebildete Enzym nur unwesentlich beeinträchtigt. Einigermaßen sicher konnte man sich diesbezüglich aber nur bei Mutationen sein, die bereits ziemlich häufig gefunden wurden.
Bei allen anderen Kombinationen mit selteneren Mutationen hatten die Eltern dann zwar die Mutationsbezeichnungen auf dem Befundzettel stehen, konnten damit aber größtenteils nichts anfangen. Was nützt es einem schon, wenn man die Kombination K329E / A56P mitgeteilt bekommt, und es dann seitens der Klinik heißt: “Darüber gibt es bislang keine Informationen, also gehen wir einfach mal von einer schweren Ausprägung des MCAD-Mangels aus.” Das ist natürlich die für die Sicherheit des Kindes richtige Betrachtungsweise, aber genaugenommen hat die Untersuchung und das oft sehr lange Warten auf das Ergebnis dann letztlich zu keinem für die Eltern nützlichen Informationsgewinn geführt.
Oft war schon das Screeningergebnis aussagekräftiger
Tatsächlich haben in vielen Fällen bereits die Werte des Neugeborenenscreenings eine deutlichere Sprache hinsichtlich der Schwere des MCAD-Mangels gesprochen, als die später ermittelten Mutationsbezeichnungen. Ich habe im Laufe der Jahre sehr vielen Forumsteilnehmern, die mir ihre Screeningwerte mit der Bitte um eine Einschätzung geschickt haben, meist schon anhand dieser Werte prognostizieren können, welche Mutationskombination mit großer Wahrscheinlichkeit bei ihrem Kind gefunden werden würde und ob es sich um eine schwere oder milde Ausprägung handelte, bzw. dass sie selbst beim Auffinden einer eventuell abweichenden Kombination unbedingt von einem schweren MCAD-Mangel ausgehen müssten, weil die Screeningwerte keinen anderen Schluss zuließen.
Obwohl diese Einschätzungen so gut wie immer von dem Ergebnis der Mutationsbestimmung voll bestätigt wurden, möchte man als Eltern eines betroffenen Kindes speziell das Vorliegen eines milden und somit möglicherweise harmlosen MCAD-Mangels auch gerne eindeutig von ärztlicher Seite bestätigt bekommen, und dazu nützt es dann leider sehr wenig, wenn in dem Befund ein oder zwei sehr seltene oder gar völlig unbekannte Mutationen genannt werden, zu deren Auswirkungen es bislang keine gesicherten Erkenntnisse gibt.
Inzwischen ist das Ergebnis der Residualaktiväts-Bestimmung sehr aussagekräftig
Aus diesem Grund halte ich die heutzutage viel genauere und sehr verlässliche Ergebnisse liefernde Residualaktivitäts-Messung für die definitiv bessere Untersuchungsalternative. Indem damit direkt nachgewiesen wird, wieviel die fehlerhaft gebildeten MCAD-Enzyme tatsächlich noch zu leisten in der Lage sind, kann ein Prozentanteil einer “normalen” Enzymaktivität ermittelt werden, anhand dessen sich abschätzen lässt, ob die betreffende Person beim Vorliegen von “metabolischem Stress” aufgrund eines Magen-Darm-Infekts, bei langen Nahrungspausen oder bei deutlich erhöhtem Energiebedarf noch ausreichend Energie aus den Fettsäuren gewinnen kann, oder ob es kritisch werden könnte.
Auch bei diesen ermittelten Prozentwerten gibt es einen mittleren Graubereich, bei dem man zur Sicherheit des Kindes die gleiche Vorsicht und Behandlung wie bei der klassischen, schweren MCAD-Variante aufwenden sollte, aber die Unsicherheit basiert dann nicht darauf, dass man über die bei dem Kind vorliegende Mutation einfach nur noch nichts weiß.
Wird nach der bereits erfolgten Residualaktivitäts-Messung auch noch eine zusätzliche Mutationsbestimmung angefragt, würde ich persönlich dies heutzutage vor allem davon abhängig machen, ob diese Untersuchung kostenlos angeboten wird (zumindest früher machten das manche Einrichtungen noch für lau, um einfach nur Daten für die eigenen Forschungsarbeiten generieren zu können), oder wie hoch die ansonsten dafür veranschlagten Kosten sein sollen. Ich selbst sehe eigentlich keinen Sinn darin, für sehr viel Geld (ca. 2000€ für die molekulargenetische Untersuchung des Blutes des Kindes) auch noch die kryptischen Namen der verantwortlichen Mutationen zu erfahren, wenn die bereits erfolgten Untersuchungen schon deutlich den anzunehmenden Schweregrad des MCAD-Mangels aufgezeigt haben. Wie oben beschrieben bringt die Kenntnis um die Mutationsbezeichnung für die Eltern keinen darüber hinausgehenden Mehrwert, sondern nur hohe Kosten (für die Eltern selbst oder für die Krankenkasse − also uns alle), auf die man genauso gut verzichten kann.
Falls euch in eurer Stoffwechselambulanz nur die Mutationsbestimmung und nicht die Residualaktivitäts-Messung vorgeschlagen wurde, schreibt mich doch einfach mal per Email an − ich kann euch dann einen Tipp geben, an welche Stoffwechselklinik ihr euch diesbezüglich am besten wenden solltet.