Ich lese im Internet oft von Entgleisungen und bin dadurch sehr beunruhigt. Kommen sie wirklich so häufig vor?

Vor einigen Jahren formulierte eine Teilnehmerin ihre beim Lesen anderer Forumsbeiträge aufgekommenen Sorgen mit folgendem Satz:

“Wenn ich sonst so im Forum stöbere, lese ich die vielen Berichte über Stoffwechsel-Entgleisungen und mir ist es bisher so vorgekommen, als ob alle Kinder mit MCAD-Mangel regelmäßig entgleisen.”

Damit war sie bei weitem nicht die einzige. Auch andere Teilnehmer − vor allem erst neu mit der MCAD-Diagnose konfrontierte Eltern − hatten sich teilweise sehr schnell wieder aus dem Forum zurückgezogen, weil sie sich durch die (vermeintlich) häufig von Entgleisungen handelnden Beiträge der anderen Teilnehmer stark beunruhigt fühlten. Einige schrieben mir zum Abschied sinngemäß, sie könnten es psychisch nicht ertragen, davon zu lesen, dass anscheinend viele andere Kinder immer wieder entgleisten, weil es sie zu traurig und ängstlich bzgl. der Zukunftsaussichten ihres eigenen Kindes mache.

Entgleisungen kommen zwar vor, aber heutzutage nur noch sehr selten!

Dieser Eindruck täuschte jedoch. Von den im Verlauf der gesamten zehnjährigen Forumszeit insgesamt rund 550 registrierten MCAD-Teilnehmern hatten etwa 530 nie von irgendwelchen riskanten Situationen, geschweige denn Entgleisungen berichtet, auch wenn wirklich hin und wieder von Krankenhausaufenthalten zu lesen war. Das waren aber alles lediglich Vorsichtsmaßnahmen während Krankheitsphasen mit problematischer Nahrungsaufnahme, um von vorneherein auf der sicheren Seite zu sein. Vorsorgliche Krankenhausaufenthalte mit Infusionen gehören beim MCAD-Mangel zur Prävention nun mal leider dazu. Es bedeutete aber fast nie, dass es schon zu Ansätzen einer Entgleisung gekommen war, sondern als Eltern fühlt man sich damit − zumindest in den ersten paar Jahren − einfach sicherer.

Dass trotzdem der Eindruck entstand, hier wäre sehr oft und von vielen Entgleisungen geschrieben worden, war vielmehr ein Beispiel selektiver Wahrnehmung. Durchstöberte man das Forum mittels der Suchfunktion nach dem Begriff “Entgleisung”, wurde man auch fündig, denn es gab natürlich schon ein paar Mitglieder, die davon berichtet hatten. Dazu gehörten 4-5 Familien mit bereits älteren Kindern (oder selbst vom MCAD-Mangel betroffene Mitglieder), auf deren MCAD-Mangel man vor längerer Zeit durch das Eintreten einer Entgleisung überhaupt erst aufmerksam wurde. Hätte man es bereits von Anfang an gewusst, wäre es durch die dann gesteigerte Alarmbereitschaft und Vorsicht möglicherweise niemals dazu gekommen. Aus diesem Grund waren diese berichteten Fälle mit der heutigen Situation nicht vergleichbar. Es waren aus den Reihen und dem Bekanntenkreis der Mitglieder auch drei am MCAD-Mangel verstorbene Kinder bekannt, aber auch bei diesen war der MCAD-Mangel leider nicht rechtzeitig diagnostiziert worden.

Darüber hinaus waren hier aber tatsächlich auch ein paar Kinder vertreten, deren MCAD-Mangel im NG-Screening frühzeitig erkannt wurde, und die trotzdem schon ein oder zwei Situationen erlebt hatten, in denen eine beginnende Entgleisung festzustellen war. In allen diesen Fällen konnten die Eltern das bereits etwas apathisch wirkende Kind aber mit Zuführung von ein wenig Saft, Maltolösung oder Traubenzucker schnell wieder zu einem Normalzustand zurückführen. In dem einen oder anderen Fall schloss sich dann auch ein kurzer Krankenhausaufenthalt an, um das Ergehen des Kindes weiter zu beobachten. Hinter diesen Berichten steckten allerdings nicht viele, sondern nur (man möge dieses “nur” bitte entschuldigen, aber bei manchen Lesern hatte sich ein ziemlich verzerrtes Bild bezüglich der Mengenrelationen gebildet) 5-6 Mitglieder, die aber in einer ganzen Reihe von Forumsbeiträgen mehrfach von ihren diesbezüglichen Erlebnissen berichtet hatten. Da man als neues Mitglied meist noch nicht den Überblick hatte, zu wem welches Kind gehörte, erkannte man auch nicht ohne weiteres, dass es sich dabei immer um die gleichen 5-6 Entgleisungssituationen handelte, und auch nur Kinder mit der bekannten Risikovariante K329E homozygot, oder (in einem Fall) einer vergleichbar schweren Mutationskombination betroffen waren. Wie gesagt soll das Erlebnis der betroffenen Mitglieder mit dem aufgestellten Mengenvergleich (6 von 550 sind 1,1%) nicht verharmlost, geschweige denn als “die paar Fälle zählen doch nicht” abgetan werden. Es soll nur verdeutlichen, dass sich durch das frühzeitige Feststellen des MCAD-Mangels sehr vieles zum Besseren gewendet hat und es selbst bei Vorliegen der Risikovariante nur noch zu extrem wenigen Fällen echter Entgleisungen kommt − und selbst diese können aufgrund der allzeit gesteigerten Aufmerksamkeit der informierten Eltern in den meisten Fällen schnell selbst behandelt und schon im Anfangsstadium unterbrochen werden.

Im Übrigen waren es oft gar nicht die Berichte der anderen betroffenen Familien, sondern die Schilderungen der betreuenden Stoffwechselärzte, die bei den Eltern die heutzutage längst nicht mehr so begründete Angst vor der Stoffwechselentgleisung oder gar -krise schürten. Immer wieder berichteten Teilnehmer davon, dass sie bei jedem der regelmäßigen Kontrolltermine neue Geschichten von Entgleisungsfällen oder gar durch den MCAD-Mangel verursachten Todesfällen aufgetischt bekamen, sobald sie gegenüber ihrem Arzt auch nur ansatzweise zu verstehen gaben, dass sie sich inzwischen im Umgang mit dem MCAD-Mangel ihres Kindes schon relativ sicher fühlten. Leider blieb bei diesen erschreckenden Schilderungen ihnen gegenüber meistens der wichtige Punkt unerwähnt, ob es sich dabei um Entgleisungen von bereits frühzeitig diagnostizierten Kindern handelte, die trotz der erhöhten Aufmerksamkeit ihrer Eltern eingetreten waren (heutzutage sehr selten), oder ob es sich dabei immer noch um Personen handelte, deren MCAD-Mangel all die Jahre bis zum Eintritt dieser auslösenden Situation völlig unbekannt war. Dies dürften auch heute noch die meisten ernsten Entgleisungsfälle sein, aber diese Fälle sind, wie oben schon erwähnt, nicht mit der Situation der seit einigen Jahren frühzeitig diagnostizierten Kinder und Jugendlichen vergleichbar und sollten daher nicht ständig neu zur anscheinend für notwendig erachteten “Verunsicherung” der sich langsam sicher fühlenden Eltern herangezogen werden.Entgleisungen