Ich bemerke bestimmte Auffälligkeiten bei meinem Kind und frage mich, ob das vom MCAD-Mangel kommt. Andere MCAD-Eltern berichten auch davon.

Es kann natürlich niemals hundertprozentig ausgeschlossen werden, dass irgendwelche “Auffälligkeiten” doch irgendwie mit dem MCAD-Mangel zu tun haben könnten, aber das ist sehr unwahrscheinlich. Es kommt allerdings nicht selten vor, dass man im Austausch mit anderen MCAD-Betroffenen auf von mehreren Beteiligten gemachte Beobachtungen stößt, die einen dann schnell zu dem Schluss verleiten, dies habe mit dem sie alle verbindenden Thema − in diesem Fall dem MCAD-Mangel − zu tun. Wissenschaftlich nennt man dieses Phänomen den sogenannten “ascertainment bias”, was auf Deutsch mit Erhebungsbefangenheit oder -verzerrung übersetzt werden könnte. Damit ist zunächst mal gemeint, dass die Untersuchungsergebnisse bzgl. der Häufigkeit von irgendwelchen Vorkommnissen davon beeinflusst werden können, in welchem “Erhebungsumfeld” man die Untersuchung durchführt. Dadurch kann das Ergebnis einer Studie drastisch verzerrt werden.

Um dazu mal ein Beispiel abseits des MCAD-Mangels zu bemühen: Angenommen in einer Studie soll ermittelt werden, wie oft Mäuse in Deutschland den Weg in die Häuser finden und wählt sich für die entsprechende Umfrage irgendein öffentliches Forum mit vielen Teilnehmern aus. In den Foren zu so ziemlich allen Themengebieten wird man die ziemlich repräsentative Rückantwort bekommen: “So ein- bis dreimal in zehn Jahren kommt das schon vor.” Die große Ausnahme würde allerdings ein Forum für die Halter von Freigänger-Katzen darstellen, denn da könnte als Ergebnis rauskommen: “Mehrmals pro Woche!”. Ich weiß leider wovon ich rede! In dem Unterforum für die Halter von reinen Wohnungskatzen würde das Ergebnis dagegen eher dem vorher genannten repräsentativen Durchschnitt entsprechen oder vielleicht sogar darunter liegen, weil man von der einen oder anderen ins Haus gelangten Maus eventuell überhaupt nichts gemerkt hat, da sich die Katze schon darum gekümmert hatte. Stellt man diese Frage also zufällig nur in einem Forum für Freigängerkatzen – am Besten noch mit Wohnlage am Stadtrand mit in der Nähe gelegenen Feldern oder Wiesen – wird das Ergebnis ein völlig anderes sein, als wenn es sich z.B. um ein Forum für Heimwerker handelt. Auch dort wird es möglicherweise einige Teilnehmer mit Freigänger-Katzen geben, die ähnlich häufig Mäuse in die Wohnung geschleppt bekommen, aber in der großen Masse der Antwortenden fallen diese paar Extremfälle nicht mehr ins Gewicht. Wäre der Inhalt der Umfrage aber gewesen, wie oft es vorkommt, dass Katzen Mäuse ins Haus schleppen, wäre das einzig richtige Erhebungsumfeld das Forum für die Halter von Freigängern gewesen und nicht der Forumsbereich für die Halter von reinen Wohnungskatzen (obwohl das immerhin noch mit halbwegs mit der Fragestellung zu tun hätte) und schon gar nicht ein Forum für Aquaristen oder Kaninchenzüchter.

Kommen wir von diesem allgemeinen Beispiel zur Verdeutlichung der Begriffe Erhebungsverzerrung und Erhebungsumfeld jetzt aber zurück zum MCAD-Mangel…

Was ist mit Erhebungsverzerrung gemeint?

Ganz oben auf dieser Seite hatte ich z.B. bereits die jährlich vielen falsch-positiven Ergebnisse im Neugeborenen-Screening in Bezug auf MCAD erwähnt. Uns gegenüber behauptete damals der Stoffwechselarzt, das NG-Screening liefere absolut verlässliche, weil zu fast 100% korrekte Ergebnisse. Der Anteil der falsch-positiven Befunde sei lediglich im Promille-Bereich. Daher gäbe es alleine schon aufgrund der Auffälligkeit im NG-Screening keinerlei Zweifel mehr am vorliegenden MCAD-Mangel. Sein Fehler an der Stelle war, außer Acht zu lassen, dass sich diese von ihm irgendwo gelesene fast 100%ige Korrektheit auf die Anzahl der falsch-positiven Ergebnisse über alle Zielkrankheiten hinweg und auf alle pro Jahr gescreenten Kinder bezog. Unter den damals (2007) rund 700.000 jährlich gescreenten Kindern waren insgesamt 700 Kinder mit falsch-positiven Befunden tatsächlich nur 0,1%. Der Stoffwechselarzt hätte in unserem konkreten Fall bei seiner Aussage aber bedenken müssen, dass dies die falsche Bezugsgruppe war, weil es unter den wenigen überhaupt in Richtung MCAD-Mangel im Screening auffällig gewordenen Kindern damals (2007) generell noch rund 62% falsch-positive Befunde gab. Diese Untergruppe von jährlich rund 170 Kinder wäre das korrekte Erhebungsumfeld gewesen und nicht die Gesamtanzahl aller pro Jahr geborenen Kinder, von denen rund 99% ohnehin nicht im Screening auffallen. Ein typischer Fall von angewandtem ascertainment bias.

Die gleichen Auffälligkeiten sind meist auch außerhalb einer Gruppe zu finden!

Ein anderes Beispiel erlebte ich vor einigen Jahren, als ich mich vorübergehend auch mal in der Facebook-Gruppe der amerikanischen Selbsthilfegruppe (fodsupport.org) beteiligte, in der Hoffnung vielleicht auch von dort aus neue Informationen in das hiesige Forum einbringen zu können. Damals berichtete dort eine Mutter davon, dass ihr Kind beim Baden selbst im warmen Wasser immer irgendwann blaue Lippen bekäme und am ganzen Körper zittere. Es fanden sich dann innerhalb von wenigen Stunden noch etwa zehn weitere Teilnehmerinnen (von damals über 1000 aktiven Mitgliedern der amerikanischen Facebook-Gruppe), die bei ihrem Kind das gleiche Phänomen festgestellt hatten und irgendjemand brachte dann die Vermutung, dass das für ihn irgendwie nach einem Energiemangel klinge, ins Spiel. Daraufhin kam jemand zu der Schlussfolgerung: “Unfassbar. Ich hätte nie gedacht, dass das mit dem MCAD-Mangel zu tun hat. Aber jetzt leuchtet mir das alles ein!”. Diese Feststellung wurde in kürzester Zeit von allen sich an der Diskussion beteiligenden Personen als nun endlich erwiesene Tatsache bestätigt. Ich gab diese Story hier im Forum weiter und auch hier konnten zwei oder drei der Teilnehmer von identischen Beobachtungen berichten. Was lag also näher, als es tatsächlich für wahrscheinlich zu halten, dass die blauen Lippen und das Zittern eine Folge des MCAD-Mangels wären. Ich stellte diese Frage aber auch noch in einem allgemeinen Elternforum mit mehreren tausend TeilnehmerInnen. Auch dort konnten direkt fast 20 Eltern davon berichten, dass ihre Kinder haargenau die gleichen Symptome beim Baden zeigten und sie hätten sich auch schon lange gefragt, woher das nur käme − aber keines dieser Kinder hatte einen MCAD-Mangel! Damit war klar, dass es nichts mit dieser Stoffwechselstörung zu tun hatte, sondern einfach querbeet anzutreffen war. Diese Neuigkeit wurde hier im Forum auch noch offen aufgenommen und akzeptiert − so richtig daran geglaubt hatte ohnehin niemand. Als ich aber danach auch in der amerikanischen Facebook-Selbsthilfegruppe dieses Ergebnis mitteilte, wurde ich regelrecht in der Luft zerrissen. Die beteiligten Eltern waren so froh gewesen, eine dermaßen einfache Erklärung für diese sie verwundernde Beobachtung gefunden zu haben − man wollte es sich nicht nehmen lassen. Sie wollten unter allen Umständen daran glauben, dass es einzig und alleine mit dem MCAD-Mangel zu tun habe. Selbst andere Teilnehmer, die sich zuvor in diesem Thema nicht zu Wort gemeldet hatten, bestätigten die aufgebrachten Eltern darin, dass mein dagegen sprechender Einwand völliger Blödsinn sei, und sie selbst jetzt ebenfalls absolut sicher wären, dass es einzig und alleine eine Auswirkung des MCAD-Mangels sei. In diesem Fall bestand der ascertainment bias also darin, dass man sich eine Beobachtung gegenseitig in einer geschlossenen Gruppe bestätigte und dabei zu dem Schluss kam, es sei ein Phänomen, das NUR innerhalb dieses Erhebungsumfeldes auftrete. Dass es außerhalb der Gruppe mit der gleichen Häufigkeit vorkommt und daher nichts mit dem die Gruppe verbindenden Element − dem MCAD-Mangel − zu tun hatte, wurde zuerst übersehen und schließlich bewusst ausgeblendet, weil den beteiligten Personen das von ihnen selbst “gefälschte” Testergebnis so gut in den Kram passte.

Durch speziell dieses zweite Beispiel soll verdeutlicht werden, dass es auch beim Austausch über den MCAD-Mangel dazu kommen kann, dass man ihn als Ursache für Auffälligkeiten  und Beobachtungen heranzieht, mit denen er überhaupt nichts zu tun hat. Im gegenseitigen Austausch ist somit grundsätzlich ein wenig Vorsicht und Nüchternheit angeraten.Auffälligkeiten