Die Diagnose eines milden MCAD-Mangels basiert auf zwei wesentlichen Feststellungen als Resultat der erfolgten Untersuchungen:
- Die in den Screenings gemessenen Acylcarnitinwerte und deren Quotienten liegen deutlich unterhalb der für die bekannten schweren Ausprägungen angenommenen Wertebereiche, und
- die bei einer Residualaktivitäts-Messung ermittelte Leistungsfähigkeit des MCAD-Enzyms liegt in einem Bereich von etwa 20% oder höher, im Vergleich zu der Enzymaktivität eines Menschen ohne MCAD-Mangel, oder
- die in der molekulargenetischen Untersuchung gefundenen MCAD-Genmutationen sind dafür bekannt, dass sie − zumindest in dieser Kombination − zu einer milden Ausprägung zu führen scheinen. Das setzt wiederum voraus, dass diese Mutationskombination niemals zuvor im Rahmen einer aufgetretenen Stoffwechselentgleisung in Erscheinung trat. Außerdem müssen sie inzwischen mit einer gewissen Häufigkeit gefunden werden, sodass man von einer relativ weiten Verbreitung auch schon vor Einführung des erweiterten Neugeborenenscreenings ausgehen kann, und die Einschätzung einer milden Ausprägung somit nicht nur auf einer Handvoll bekannter Fälle beruht. Für viele neu gefundene Mutationskombinationen wurden in den letzten Jahren auch schon Residualaktivitätsmessungen durchgeführt, so dass man aufgrund dieser Daten heutzutage bereits aus den ermittelten Genmutationen eines Kindes abschätzen kann, welchen prozentualen Anteil an Restaktivität die in seinem Körper gebildeten MCAD-Enzyme ungefähr haben werden. Lies dazu auch in der FAQs-Liste die Frage “Besteht ein direkter Zusammenhang von Residualaktivität und MCAD-Mutationen?”
Bei seltenen oder bislang sogar noch ganz unbekannten neuen Mutationen im für das MCAD-Enzym zuständigen ACADM-Gen des Kindes, kann man anhand verschiedener Computerprogramme simulieren und berechnen lassen, was diese Mutationen mit dem MCAD-Enzym anstellen und wie stark die davon verursachten Einschränkungen sein könnten. Die in solchen Fällen aber deutlich bessere Diagnosemethode ist tatsächlich, die Leistungsfähigkeit dieses Enzyms mittels einer Residualaktivitätsanalyse in den Lymphozyten (weißen Blutkörperchen) überprüfen zu lassen.
Besonders die Feststellung, dass es bei Kindern mit der gleichen Mutationskombination noch nie zu einer Stoffwechselentgleisung gekommen ist − und das selbst zu Zeiten, als noch nicht frühzeitig gescreent wurde, und somit die Eltern in Krankheitsphasen auch nicht peinlich genau auf regelmäßiges Füttern ihrer Kinder achteten, und kein Mensch daran dachte, bei Nahrungsverweigerung zwecks Infusion in die Klinik zu fahren − sollte geeignet sein, dir ein paar der momentan vielleicht noch bestehenden Sorgen über die Zukunft deines Kindes zu erleichtern.
Mit der schriftlichen Mitteilung, dass die Befunde deines Kindes auf eine milde Variante des MCAD-Mangels hindeuten, und der sich daraus möglicherweise für dich selbst ergebenden psychischen Beruhigung, ist es dann aber leider auch schon getan! In Bezug auf die Behandlungen durch die euch betreuenden Ärzte in der Stoffwechselambulanz, die regelmäßigen Kontrolltermine und ihre Empfehlungen hinsichtlich der Nüchterntoleranzzeiten (also der maximalen Abstände zwischen den Mahlzeiten des Kindes), der eventuellen täglichen Zuführung von Carnitin und dem Rat, bei Anzeichen von Nahrungsverweigerung sofort in die Klinik zu kommen, um das Kind während dieser Phase per Glukoseinfusion ernähren und somit bloß nicht hungern zu lassen, ändert sich nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit überhaupt nichts. Eine hundertprozentige Sicherheit für die Unbedenklichkeit einer bestimmten MCAD-Variante gibt es nämlich nicht, und wird es mit noch so vielen unauffälligen Beispielen auch niemals geben. Während es nämlich sehr einfach festzustellen ist, ob eine bestimmte Mutationskombination ein Risiko birgt (ein einziger bestätigter Entgleisungsfall reicht aus, um diese Mutationskombi als riskant einzustufen), funktioniert dies in entgegengesetzter Richtung leider nicht.
Die bekannteste der milden MCAD-Genmutationen
Als Beispiel sei die häufige MCAD-Genmutation c.199t>c (p.Y67H) genannt. Diese Mutation − und viele andere − wurde erst mit der Einführung des erweiterten Screenings gefunden, und war bis dahin völlig unbekannt. Dies bedeutet aber nicht, dass es sich dabei erst um einen in den letzten Jahren verbreiteten MCAD-Gendefekt handelt. Aufgrund der Häufigkeit, mit der diese Mutation inzwischen in homozygoter Form (c.199t>c/c.199t>c) und in compound heterozygoter Form (vor allem in Kombination mit der als riskant bekannten Mutation K329E / c.985a>g) gefunden wird, kann man davon ausgehen, dass sie schon seit mehreren hundert Jahren, also über viele Generationen hinweg, im Umlauf ist und heute sehr viele Menschen Carrier für diese Genmutation sind – wenn auch natürlich längst nicht so viele, wie für die häufigste Mutation c.985a>g.
Schon vor 2004 durchgeführte genauere Analysen dieser Mutation und ihrer Auswirkungen haben gezeigt, dass die Funktion der MCAD-Enzyme, die anhand des durch diese Mutation leicht beschädigten Bauplans im davon betroffenen MCAD-Gen gebildet werden, anscheinend nur geringfügig beeinträchtigt wird, und dieser Anteil der Enzyme unter normalen Bedingungen fast ohne Einschränkung arbeitet. Wie es unter Krankheitsbedingungen aussieht, wird in den letzten Jahren vermehrt wissenschaftlich untersucht, mit dem Ziel, in Zukunft vielleicht sogar für Kinder, bei denen diese Mutation selbst in Kombination mit K329E gefunden wird, die Diagnose MCAD-Mangel wieder vollständig fallen lassen zu können. Bis zu gesicherten Studienergebnissen wird allerdings noch einige Zeit vergehen. In der in den letzten Jahren immer häufiger durchgeführten Residualaktivitätsmessung wurde bei Kinder mit der Mutationskombination c.985a>g/c.199t>c eine Aktivität von um die 20% gemessen. Da aus dem Gen mit der schweren Mutation c.985a>g nur Enzyme mit keiner nennenswerten Aktivität (weniger als 0,5%) produziert werden können, wird fast die gesamte Leistung von den aus dem Gen mit der Mutation c.199t>c gebauten MCAD-Enzymen erbracht. Bei homozygotem Vorliegen von c.199t>c würde somit eine Aktivität von sogar etwa 40% feststellbar sein, was dann bereits im Bereich der bei Carriern messbaren Aktivitäten läge. Allerdings ist diese homozygote Kombination dann doch wieder so selten, dass sie in den letzten Jahren anscheinend noch nicht im Rahmen einer Residualaktivitätsmessung erfasst wurde. Somit kann man bislang nur den Schluss ziehen, dass aufgrund des bisherigen Fehlens erfasster Fälle echter Stoffwechselentgleisungen bei Menschen mit der zuvor genannten compound heterozygoten Variante dieser Mutation, selbst die bei ihnen vorliegenden “nur” 20% Restaktivität der MCAD-Enzyme bereits ausreichen dürften, um einen weitgehend normalen Ablauf des Stoffwechsels zu ermöglichen.
Momentan lässt sich ein hieb- und stichfester Beweis dafür leider noch nicht erbringen, denn dazu müsste man Kinder mit diesem Gendefekt in homozygoter oder compound-heterozygoter Form gezielt über einen längeren und normalerweise für den MCAD-Mangel kritischen Zeitraum hinweg hungern lassen. Dieses Risiko werden aber weder Ärzte noch Eltern eingehen wollen, und selbst wenn in einer Studie mit 100 Kindern herauskäme, dass es bei einem solchen Fastentest zu keinen MCAD-typischen Auffälligkeiten oder gar einer Entgleisung kam, würde dies nicht als Garantie dafür ausreichen, dass auch dem 101. oder 102. Kind in ähnlicher Situation nichts passieren könnte.
Im Allgemeinen, d.h. mit Ausnahme dieser einen Mutation Y67H (c.199t>c), basiert die (vorsichtige) Diagnose “milder” MCAD-Mangel daher auch nicht auf den ermittelten Mutationen, sondern auf dem klinischen Gesamtbild eines Kindes. Dazu zählt u.a. wie lang das Kind nüchtern sein kann, bevor es zu einer feststellbaren Unterzuckerung oder anderen klinischen Symptomen kommt, ob es die üblichen Kinderkrankheiten ohne spezielle Maßnahmen überstanden hat, oder ob es aufgrund einer Erkältung schon mal ins Krankenhaus musste. Braucht es eine kohlenhydratreiche Nachtmahlzeit, um morgendliche Unterzuckungen zu verhindern, oder übersteht es die Nächte auch ohne Nachtmahlzeit problemlos? Aber selbst dieses klinische Gesamtbild lässt sich nicht ohne weiteres aufstellen, denn die wichtigste Maßnahme beim MCAD-Mangel ist und bleibt nun mal die Vermeidung jedes noch so kleinen Risikos.
Kein wesentlicher Unterschied in der Behandlung zwischen “milden” und “normalen” Varianten
Ein als mild (med. “benigner”=gutartig) eingestufter MCAD-Mangel wird daher seitens der Stoffwechselärzte identisch wie eine klassische, d.h. für ihr Entgleisungsrisiko bekannte Variante behandelt. Je nach behandelndem Arzt, und dabei hängt es wirklich rein von seiner persönlichen Meinung ab, wird vielleicht noch die maximale Nüchterntoleranzzeit um 1 bis 2 Stunden erhöht, aber auch diese soll dann nicht überschritten werden. Es wird weiterhin regelmäßige Kontrolluntersuchungen in der Stoffwechselambulanz geben, vielleicht mit etwas größeren zeitlichen Abständen, als bei Kindern mit den schweren MCAD-Varianten. Und auch im Fall der Nahrungsverweigerung, oder des wiederholten Erbrechens sollen sich die Eltern, aufgrund der nicht 100%igen Unbedenklichkeitsgarantie dieser milden Ausprägung, auf kein riskantes Spiel einlassen, sondern ihr Kind lieber in der Klinik per Infusion über die vielleicht doch nicht ganz unkritische Zeit bringen lassen.
Auf diese Weise wird sich natürlich leider auch nicht feststellen lassen, ob dieser ganze “Aufwand” tatsächlich gerechtfertigt ist, oder das Kind − und damit auch die ganze Familie − auch ohne die nächtlichen Fütterungen, Carnitingaben und zeitweisen Klinikaufenthalte problemlos und weitgehend unbelastet leben könnte. Von ärztlicher Seite aus geht es ausschließlich um Risikominimierung − nicht nur für die Kinder, auch für sich selbst, denn sie werden zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sich ihre Empfehlungen im Nachhinein als Fehler herausstellen! Die Verantwortung für ihr Kind tragen aber letztlich die Eltern, und sie werden im Laufe der Zeit ein feines Gespür dafür entwickeln, wie sich ihr Kind in dieser oder jener Krankheitssituation verhält, wann sie die Lage selbst im Griff zu haben glauben, und wann sie sich doch wohler fühlen, wenn ihr Kind zur Sicherheit in der Klinik versorgt wird.
Bedeutet die Feststellung eines milden MCAD-Mangels, dass ich das ganze Thema vergessen kann?
Auf gar keinen Fall! Ein diagnostizierter MCAD-Mangel ist ein MCAD-Mangel, egal ob er als mild oder als normal eingestuft wird! Es gibt zwar die begründete Vermutung, jedoch keine Garantie, dass es bei einer als mild angenommenen Variante niemals zu einer Entgleisung kommen wird. Eine Ausnahme sind laut einer Studie der Uni-Klinik Düsseldorf aus dem Jahr 2012 diejenigen Varianten, bei denen wenigstens eine Y67H- und der E43K-Mutation beteiligt ist. Deren Residualaktivitäten liegen in Kombination mit der schweren K329E üblicherweise bei ungefähr 20% (Y67H), oder sogar bei über 30% (E43K). Aber auch, wenn man wie in dieser Studie zu dem Ergebnis kommt, dass man den davon betroffenen Kindern genaugenommen keinen MCAD-Mangel mehr anhängen müsste, bedeutet dies noch lange nicht, dass sich diese “interne” Erkenntnis auch auf die in Deutschland praktizierte Behandlung der MCAD-Patienten auswirkt. Inzwischen wurden sogar noch eine ganze Reihe weiterer Mutationskombinationen identifiziert, deren Enzymaktivitäten im Bereich größer als 20% gemessen wurden, sodass man auch für diese eigentlich eine entsprechende Unbedenklichkeit wie für die beiden zuvor genannten Varianten annehmen könnte. Leider sind die meisten der neu entdeckten Mutationskombinationen aber so selten, oftmals nur Einzelfälle, dass sich viele Stoffwechselärzte in diesem Punkt lieber nicht festlegen wollen und deshalb die Behandlung weiterhin wie bei einem schweren MCAD-Mangel angehen.
Es gibt bei den unterschiedlichen Stoffwechselstörungen die verschiedensten Trigger, die eine Krise auslösen können − und kein Kind ist wie das andere. Trigger können z.B. Fiebertemperaturen, körperliche Erschöpfungszustände nach anstrengendem Sport, äußere Temperaturen, irgendwelche Medikamenteneinnahmen, Nahrungsmittel, u.v.m. sein. Z.B. könnte eine nach vielen Jahren erstmals auftretende extreme Sommerhitze bei einem bis dahin völlig unauffälligen Kind mit vermutetem mildem MCAD-Mangel als Auslöser für eine beginnende Entgleisung wirken, während ein anderes Kind mit der gleichen Mutationskombination diese Temperatur ohne die geringsten Probleme wegsteckt, aber vielleicht Jahre später auf einen ganz anderen Trigger erstmals auffällig reagiert.
Aufgrund der Erfahrungen – oder besser gesagt: der nicht vorhandenen Erfahrungen – bzgl. der Auswirkungen eines milden MCAD-Mangels, ist es tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass dein Kind sein Leben lang niemals in eine der gefürchteten, lebensbedrohlichen Stoffwechsel-Krisen geraten wird. Trotzdem sind bei ihm beide Genkopien von einer Mutation betroffen, so dass die bei ihm vorhandene Enzymaktivität zwar gegenüber Menschen mit schwerem MCAD-Mangel drastisch erhöht, aber selbst gegenüber Carriern immer noch deutlich reduziert ist. Daher kann es durchaus Situationen geben, in denen sich die somit auch deutlich verminderte Fähigkeit zur Energiebereitstellung aus den Fettreserven mit gewissen Symptomen bemerkbar machen könnte. Obwohl diese Symptome vermutlich weitaus weniger schwer ausfallen dürften, wie sie in einer gleichen Energiemangel-Situation bei Menschen mit schwerem MCAD-Mangel auftreten würden (also keine Krampfanfälle, Apathie, heftiges Zittern oder gar Bewusstlosigkeit), sollte doch bei jedem Anzeichen von auffälliger Erschöpfung, kalten Schweißausbrüchen, blasser Gesichts- oder Hautfarbe oder auch nur auffälligem Verhalten sofort an den MCAD-Mangel als mögliche Ursache gedacht und mit zuckerhaltigen Getränken oder Nahrungsmitteln entgegengewirkt werden. Besonders wenn solche Symptome während oder nach einer anstrengenden körperlichen Betätigung auftreten, ist ein Zusammenhang mit dem MCAD-Mangel sehr wahrscheinlich. Dein Kind wird auch in solchen Situationen aufgrund seiner noch zu einem beträchtlichen Teil vorhandenen Fähigkeit der Fettsäurenverwertung vermutlich nie in eine gefährliche Krise abgleiten, aber Energiemangel-Symptome sind für generell alle Menschen sehr unangenehm – sogar für diejenigen ohne MCAD-Mangel und daher für die davon Betroffenen erst recht.
Was für eine positive psychische Wirkung man als Eltern aus der Erkenntnis gewinnt, dass es sich um eine (vermutlich) milde Variante handelt, bleibt letztlich jedem selbst überlassen. Vielleicht wirkt alleine schon das Wissen etwas beruhigend, dass zumindest keine der bereits durch eindeutige Entgleisungen in Erscheinung getretenen Mutationskombinationen vorliegt. Im Interesse des Kindes darf eine solche Mitteilung jedoch niemals dazu führen, dass die nun mal diagnostizierte Stoffwechselstörung seitens der Eltern (und auch der behandelnden Ärzte!) nicht ernst genommen wird!
Vielleicht wird die medizinische MCAD-Forschung in einigen Jahren soweit sein, dass die Schwellwerte, ab denen ein Screeningergebnis oder ein Acylcarnitinprofil als auffällig gilt, angehoben werden, oder die Datenbasis für einzelne Mutationskombinationen deutlich angewachsen sein. Vielleicht werden dann einige der heute noch mit “milder, aber behandlungsbedürftiger MCAD-Mangel-Ausprägung” diagnostizierte Kinder, dann schon im NG-Screening als unauffällig gelten, und überhaupt keine MCAD-Verdachts-Mitteilung erhalten. Aber bis dahin ist ein diagnostizierter MCAD-Mangel, und sei es auch eine als noch so mild angenommene Variante, dennoch ein MCAD-Mangel, der seitens der Eltern jederzeit ernst genommen und seitens der Ärzte in den Kliniken immer gemäß der im Notfall-Ausweis beschriebenen Maßnahmen behandelt werden muss.