Es ist richtig, dass man den MCAD-Mangel in eine gewisse Beziehung mit ein paar wenigen Fällen (ca. 1%-3%) von plötzlichem Kindstod bringen kann. Allerdings nur in der Form, dass man im Nachhinein − teilweise erst viele Jahre später − eine aufgrund eines unentdeckten MCAD-Mangels aufgetretene nächtliche Stoffwechselentgleisung, bzw. die sich in deren Folge einstellende Unterzuckerung und die daraus folgende Mangelversorgung des Gehirns und weiterer lebenswichtiger Organe als Todesursache identifizieren konnte.
Was steckt hinter der Diagnose “plötzlicher Kindstod”?
Der plötzliche Kindstod (auch als Krippentod, Säuglingstod oder englisch als SIDS = sudden infant death syndrome bezeichnet) ist keine eigenständige Todesursache, sondern eine Ausschlussdiagnose. In der San Diego-Definition wird er beschrieben “als der plötzliche, unerwartete Tod eines Kindes, das jünger als ein Jahr ist. Das fatale Ereignis geschieht vermutlich während des Schlafes. Auch nach eingehender Untersuchung, einschließlich der Durchführung einer vollständigen Autopsie und der Begutachtung der Todesumstände sowie der medizinischen Vorgeschichte, bleibt der Tod ungeklärt.“ [Krous et al., 2004]. Die Diagnose “plötzlicher Kindstod” ist somit die Verlegenheitsbezeichnung des Umstandes, dass man trotz Überprüfung aller denkbaren Todesursachen die tatsächliche Ursache für das Versterben des Kindes nicht herausfinden konnte.
In den Jahren nach der Entdeckung des MCAD-Mangels als eigenständige Stoffwechselstörung, aber vor der Einführung des erweiterten Neugeborenenscreenings, war den Eltern der bei ihrem Kind vorliegende MCAD-Mangel gänzlich unbekannt, sodass sie eine während der Nacht eintretende Entgleisung (aufgrund einer aus heutiger Sicht viel zu großen Nahrungspause – oftmals noch dazu in Verbindung mit einer Krankheitssituation wie Erbrechen oder Durchfall) völlig unvorbereitet traf. In einigen Fällen war eine Entgleisung so früh und so heftig eingetreten, dass das Kind bis zum Auffinden durch die Eltern bereits verstorben war, was von den Ärzten dann zunächst meist als plötzlicher, unerwarteter Kindstod angesehen wurde. In der folgenden Autopsie konnte dann aber anhand des Acylcarnitinprofils, bzw. der Genanalyse, nachträglich die Diagnose MCAD-Mangel gestellt und als Todesursache angesehen werden. Im Rückblick auf die Zeiten vor der Entdeckung des MCAD-Mangel kam man damit zu dem Schluss, dass auch damals schon ein gewisser Anteil der zu jener Zeit noch als unerklärlicher plötzlicher Kindstod diagnostizierten Todesfälle ebenfalls von einem unbekannten MCAD-Mangel verursacht worden sein dürften.
Insofern stimmt es schon, dass der MCAD-Mangel etwas mit dem plötzlichen Kindstod zu tun hat(te), allerdings wurde genau dieses Risiko durch die frühzeitige Diagnose dieser Stoffwechselstörung und die sich daraus ergebende erhöhte Wachsamkeit der Eltern weitestgehend beseitigt.
Leider machen manche (kurze) MCAD-Mangel-Definitionen auf den Webseiten einiger Uni-Kliniken keine Unterscheidung zwischen den vollkommen unterschiedlichen Situationen vor und nach der Einführung des erweiterten Screenings, denn da heißt es lapidar, dass zu den Symptomen des MCAD-Mangels neben Krampfanfällen, Unterzuckerungen, Hypoketonurie, Koma, usw. auch der plötzliche Kindstod gehören kann. Somit entsteht der falsche Eindruck, dass das eigene Kind vielleicht sogar trotz Einhaltung kurzer Fütterungsabstände sowie aller anderen Sicherheitsmaßnahmen, einfach aufgrund der Tatsache des bestehenden MCAD-Mangels, ganz plötzlich und unerwartet von einer Minute zur anderen während des Schlafs versterben könnte.
Dieser falsche Eindruck wird verstärkt durch vereinzelt zu findende Berichte, wie z.B. eine Dissertation zum SIDS im Bereich der Rechtsmedizin, die ohne den MCAD-Mangel auch nur ein einziges weiteres Mal im gesamten Text zu behandeln, die Aussage stehen lässt, es gäbe Genmutationen, die den plötzlichen Kindstod direkt verursachten, wie z.B. Defekte des Medium-Chain AcylCoA Dehydrogenase-Gens. Wumms! Hat der MCAD-Gendefekt also doch ein regelrechtes Todesgen produziert, welches völlig ohne Vorwarnung und von einer Minute zur anderen das Leben eines Säuglings ausknipsen kann?
Nein! Erst im Zusammenhang der weiteren Ausführungen wird klar, dass damit dann doch nur gemeint war, dass es sich beim MCAD-Gendefekt um einen aus einer ganzen Reihe möglicher Gendefekte mit Auswirkungen auf den Stoffwechsel handelt, dessen spezielle Wirkung im Bereich der Energiebereitstellung unter gewissen Umständen zu einem lebensbedrohlichen Energiemangel führen kann. Also genau das, was allgemein bekannt ist, und was es mit etwas erhöhter Aufmerksamkeit zu verhindern gilt. Diesen Risikofaktor eines unter gewissen Umständen auftretenden Energiemangelzustands weisen Kinder ohne MCAD-Mangel, bzw. ohne ähnliche den Stoffwechsel beeinträchtigende Gendefekte natürlich nicht auf. Unter diesem − und nur unter diesem − Gesichtspunkt ist die in der obigen Frage enthaltene Behauptung zutreffend.
Eine weitere Dissertation, die so ganz am Rande auch den Einfluss des MCAD-Mangels auf den plötzlichen Kindstod zu beleuchten versucht, kommt zu dem Ergebnis, dass der MCAD-Mangel keine besondere Rolle spielen dürfte − allerdings hat man zum Ableiten dieser Aussage auch nur nach drei (im Verhältnis zur sehr häufigen K329E sehr seltenen) anderen Mutationen bei den verstorbenen Kindern gesucht. Keine davon wurde gefunden, was eigentlich naheliegend war.
Was soll man nun also davon halten, wenn auf den Webseiten mancher Uni-Kliniken so beunruhigende Aussagen stehen, dass der MCAD-Mangel u.a. auch zum plötzlichen Kindstod führen könne und den Eltern das dann auch wieder und wieder von dem sie beratenden Stoffwechselexperten in Erinnerung gerufen wird? Alle diese Aussagen beruhen weitestgehend auf reinen Vermutungen und nicht auf genau belegten Forschungsergebnissen. Weder die oben erwähnte erste, noch die zweite Dissertation gehen bzgl. des Einflusses des MCAD-Mangels auch nur ansatzweise in die Tiefe und liefern verlässliche Ergebnisse. Das einzige, was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es in der Zeit vor dem Screening höchstwahrscheinlich auch einige an einer aufgrund des MCAD-Mangels im Schlaf eingetretenen metabolischen Krise verstorbenen Kleinkinder gab, deren Todesursache nicht gefunden wurde, da man den MCAD-Mangel zu dem Zeitpunkt noch nicht kannte und daher auch nicht bei der Ursachensuche in Betracht zog.
Es besteht aber kein Grund zur Annahme, dass der MCAD-Mangel das plötzliche Versterben eines ansonsten gerade rundum gesunden Kleinkindes verursachen könnte. Somit gibt es auch keinen Anlass zur übermäßigen Besorgnis! Nicht alles, was man dir diesbezüglich in der Stoffwechselambulanz als scheinbare Fakten mitteilt, ist tatsächlich noch aktuell, geschweige denn wissenschaftlich genau belegt.
Wenn du dies hier liest, bedeutet dies außerdem, dass du um den MCAD-Mangel deines Kindes weißt, und alleine dadurch ist dieser früher nur aufgrund seines Unbekanntseins bestehende Risikofaktor für einen plötzlichen Kindstod schon so gut wie ausgeschaltet. Bei Einhaltung der weiteren Vorsichtsmaßnahmen, die zur Vermeidung eines SIDS empfohlen werden (möglichst nicht Bauch- sondern Rückenlage, Zimmer und Schlafkleidung nicht zu warm, um einer Überhitzung vorzubeugen, keine weichen Kissen oder Decken, die das Gesicht des Kindes bedecken können, usw.) ist das Risiko generell sehr gering, und jedenfalls nicht höher, als bei jedem anderen Kind auch. Verschiedene Untersuchungen haben festgestellt, dass generell das anscheinend geringste Risiko bei denjenigen Kindern besteht, die in einem eigenen Bett im Elternzimmer schlafen. Auch aufgrund der Notwendigkeit des regelmäßigen nächtlichen Fütterns, bietet sich daher z.B. ein am Elternbett befestigter Babybalkon als gut geeignete Lösung an.