Warum gibt es überhaupt so viele unterschiedliche Empfehlungen?

Als ich Anfang 2008 das MCAD-Forum ins Leben rief, stellte sich bereits innerhalb weniger Wochen sehr deutlich die ziemlich verwirrende, wenn nicht gar verstörende Erkenntnis ein, dass die an verschiedenen Stoffwechselambulanzen betreuten Familien von ganz unterschiedlichen Vorgehensweisen bzw. Empfehlungen ihrer Ärzte berichteten. Dies betraf sowohl die ihnen gegenüber gemachten Aussagen zu Nüchterntoleranzzeiten, Carnitingaben, Ernährung, Maltodextrin und überhaupt die praktizierte Vorgehensweise zur endgültigen Abklärung des zunächst nur als Verdacht angenommenen MCAD-Mangels.

Unterschiedliche Empfehlungen als Alleinstellungs- und Qualitätsmerkmal? Nicht wirklich!

Einigkeit gab es unter fast allen betreuenden Stoffwechselärzten nur in einem Punkt: wenn man ihnen mitteilte, dass man im Austausch mit anderen betroffenen Familien davon gehört habe, dass an der Uniklinik in der Stadt xy die Empfehlungen zur Ernährung oder die Nüchterntoleranzzeit im aktuellen Alter des eigenen Kindes etwas anders seien, bekam man ein deutlich mitleidiges, um nicht zu sagen gequältes Lächeln geschenkt, zusammen mit der Erwiderung: “Na ja, was soll ich dazu sagen! Seien Sie mal froh, dass Sie hier bei uns betreut werden, denn WIR kennen uns wirklich mit dem MCAD-Mangel aus. Das ist ja offensichtlich längst nicht überall der Fall! Soll ich Ihnen mal sagen, wie oft die dort betreuten Kinder in schwere Stoffwechselkrisen geraten, weil die genannten Nüchternzeiten für das Alter einfach viel zu lang sind / weil man dort kein Carnitin verordnet?”

Ich selbst habe es genau so gesagt bekommen und auch mehrere andere Teilnehmer haben von ähnlichen Reaktionen ihrer Ärzte berichtet. Seltsam war dann nur, dass die Forumsteilnehmer, die an den betreffenden Kliniken betreut wurden, nie von irgendwelchen Entgleisungen berichtet haben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass eine Uniklinik auch immer sofort einen Info-Rundbrief an alle anderen Stoffwechselzentren schickt: “Hallo zusammen, es ist wieder eines der an unsere SWA betreuten MCAD-Kinder entgleist. Das nur zur Info für euch, damit ihr euren Patienten mal wieder mitteilen könnt, dass die von uns genannten Nüchternzeiten doch zu lang sind, und dass unser Verzicht auf Carnitinverordnungen ebenfalls falsch ist.

Es anders zu machen als alle anderen, war schon 2008 (und sicher auch schon davor) das Alleinstellungsmerkmal, mit dem man sich an fast allen Unikliniken zu brüsten versuchte. Man darf allerdings nicht dem Irrtum unterliegen, daraus abzuleiten, dass man sich an diesen Unikliniken besonders intensiv mit der Erforschung des MCAD-Mangels beschäftigt und darauf seine individuelle Vorgehensweise aufgebaut hat. Vielmehr basieren alle diese unterschiedlichen Empfehlungen auf schon relativ alten Veröffentlichungen diverser, meist ausländischer Studien aus den Niederlanden oder den USA, in denen z.B. mit überwachten Fastentests ausprobiert worden war, wie lange MCAD-Kinder in unterschiedlichem Alter hungern konnten, bevor bei ihnen klinische Symptome zu bemerken waren. Da man dazu ja überhaupt erstmal Familien finden musste, die sich auf so ein gewagtes Experiment an ihrem eigenen Kind im Dienste der Wissenschaft einlassen wollten, basierten die erhobenen Daten meistens auf ziemlich kleinen Versuchsgruppen mit teilweise nur drei bis fünf Kindern pro Altersgruppe. In manchen Studien wurde zusätzlich berücksichtigt, welche MCAD-Ausprägung aufgrund der gefundenen Genmutationen bei den Kindern vorlagen, bei anderen Versuchen wurde nicht zwischen schweren und milden Varianten unterschieden, sodass es auch Kinder gab, bei denen der Versuch nach über 30 Stunden ohne jegliche Symptome abgebrochen wurde, während andere gleichaltrige Kinder schon nach vielleicht 14 oder 16 Stunden deutliche klinische Symptome zeigten. Diese gezielt durchgeführten Versuche wurden ergänzt durch die zurückliegenden Nüchternzeiten einzelner Kinder, die aufgrund einer Entgleisung in verschiedenen Kliniken behandelt worden waren. Da es sich in solchen Fällen üblicherweise um Krankheitssituationen mit Erbrechen gehandelt hatte, basierten die Angaben zur zurückliegenden Nüchternzeit dann vor allem auf groben Annahmen, da sich nur schwer einschätzen ließ, ob nun wirklich die letzte Mahlzeit als Anfangszeitpunkt gewertet werden konnte oder ob man aufgrund des Erbrechens eher noch eine weitere Mahlzeit zurückdenken musste. Jede dieser Veröffentlichungen enthielt dann auch eine sich aus diesen Beobachtungen ableitende Tabelle mit empfohlenen Nüchternzeiten, bei denen in einem Fall die Obergrenze für ein bestimmtes Alter dann halt mal bei 8 Stunden, in einem anderen Fall aber vielleicht schon bei 10 oder sogar 12 Stunden lag.

Wie gesagt, wurden diese ganzen Studien zur aktiven Ermittlung von sicheren Nüchternzeiten schon vor ziemlich langer Zeit gemacht. Zumindest seit 2008 habe ich von keiner der im Forum vertretenen rund 550 MCAD-Familien von entsprechenden Anfragen gehört. Neuere Studien zu Nüchternzeiten beschränken sich daher vermutlich darauf, die verschiedenen “alten” Daten aus aller Welt zusammenzutragen und anhand dieser somit größeren Datenbasis und eventuellen jüngeren Fällen von eingetretenen Entgleisungen zu überprüfen, ob man die Zeiten-Tabellen eventuell anpassen sollte.

Welche Nüchternzeiten-Übersicht von einer Uniklinik als eigene Empfehlung an die betreuten Familien weitergegeben wurde (und auch heute immer noch wird), hing einfach nur davon ab, auf welche dieser verschiedenen alten Studien und darin erwähnten Tabellen man zuerst gestoßen ist, bzw. welche der verschiedenen Tabellen man am sinnvollsten fand. Hier spielte somit keine übergeordnete wissenschaftliche Erkenntnis, sondern einzig und alleine der Faktor Mensch eine Rolle. Hinzu kommt, dass der MCAD-Mangel aufgrund der nur wenigen pro Jahr hinzukommenden betroffenen Kinder in den meisten Unikliniken nur ein ganz kleines Randthema ist und in den Stoffwechselambulanzen nur mitbehandelt wird, weil er nun mal ins Themengebiet fällt. Man kann sich aber vorstellen, dass gegenüber den an den SWAs betreuten unzähligen an behandlungsbedürftigem Übergewicht oder sogar Adipositas leidenden Kindern, sowie den pro Jahr etwa 3700 neu hinzukommenden Kindern mit Typ-1-Diabetes, die im Vergleich dazu “nur” rund 70 neuen MCAD-Fälle (die sich dann auch noch auf fast drei Dutzend SWAs in ganz Deutschland verteilen) kaum ins Gewicht fallen. Zumindest nicht, wenn es darum geht, die seit Jahrzehnten praktizierten Vorgehensweisen mal komplett zu überdenken und auf aktuellere Erkenntnisse der letzten paar Jahre zu stützen.

Eine gewisse Vereinheitlichung der Empfehlungen gab es mit dem Erscheinen der ersten MCAD-Broschüre von Milupa, die an die Unikliniken geschickt und von einigen Stoffwechselärzten auch an neue MCAD-Familien verteilt wurde. Längst nicht alle Ärzte gaben dieses Heftchen weiter, wie wir im Forum über die Jahre hinweg feststellen konnten. Manchmal wurde sie einem auch nur mit gleichzeitigen mündlichen Sicherheitshinweisen in die Hand gedrückt. Uns wurde z.B. gesagt, dass wir auf die enthaltene Nüchternzeitentabelle nichts geben sollten. Man hätte hier eine eigene, die noch etwas restriktiver und deshalb viel sicherer sei. Auf die tatsächlich bestehenden Nachteile der enthaltenen Tabelle und die zum Teil auch dadurch aufgetretenen Missverständnisse (sie endete z.B. mit einem Alter von 7 Jahren), wird an anderer Stelle noch genauer eingegangen. Keine Probleme mit der Übernahme der Empfehlungen aus dem Heftchen hatte man dagegen an all den SWAs, deren Stoffwechselärzte im Gespräch mit den Eltern immer erst darin nachschlagen mussten, um die ihnen gestellten Fragen beantworten zu können – falls überhaupt etwas dazu in der Broschüre stand. Soviel dazu, dass jede Uniklinik für sich in Anspruch nehmen möchte, dass größte und genaugenommen auch einzige Kompetenzzentrum zum MCAD-Mangel zu sein.

In gleicher Weise verhält es sich mit dem Carnitin. Auch da haben in den vergangenen Jahrzehnten nur wenige SWAs ihre Haltung bzw. Vorgehensweise überdacht und geändert. Manche Ärzte vertreten nach wie vor die Haltung “Viel hilft viel – also rein damit, und außerdem haben wir das hier schon immer so gemacht!” Andere haben immerhin ein Einsehen, dass der oftmals daraus resultierende penetrante Fischgeruch den Kindern im täglichen Umgang mit ihren Mitmenschen erheblich schadet und verschreiben kleinere Portionen oder nur im Einzelfall nach regelmäßigen Kontrollen.

Hierzu ein kleiner Tipp: Wenn du bei der nächsten Kontrolluntersuchung in der SWA erreichen möchtest, dass der überprüfte Carnitinspiegel auf einem möglichst hohen Niveau ist, dann gib deinem Kind die tägliche Dosis etwa 3-4 Stunden vor dem Termin bzw. vor dem zu erwartenden Zeitpunkt der Blutabnahme. Zu diesem Zeitpunkt ist die im Blut feststellbare Menge an freiem Carnitin am höchsten, während sie in den folgend 6-8 Stunden langsam auf ihr normales Basis-Niveau zurückkehrt. Willst du dagegen wissen, wie viel die tägliche Carnitingabe seit der letzten Untersuchung wirklich gebracht hat, dann gib deinem Kind die tägliche Dosis einfach mal erst nach dem Termin in der SWA. Dann ist in der Blutprobe das freie Carnitin auf seinem tatsächlichen Basisniveau feststellbar und nicht der durch die vorherige Einnahme ausgelöste hohe Peak-Wert. Es könnte dann allerdings dazu kommen, dass der aktuelle Carnitinspiegel gegenüber dem letzten Ergebnis von vor einem halben Jahr scheinbar deutlich abgesunken ist und euer Arzt euch deshalb eine höhere tägliche Dosis verordnen will. In Wirklichkeit war aber der in der zurückliegenden Untersuchung gemessene Carnitinwert durch die zuvor erfolgte Einnahme vermutlich auch nur stark in die Höhe gepusht worden und der aktuelle Wert zeigt das wahre Niveau an, wie es durch die fortwährenden Carnitingaben erreicht wurde.

Etwas Erfreuliches zum Schluss!

In den vergangenen Jahren haben erfreulicherweise immer mehr SWAs eingesehen, dass die alleine auf der molekulargenetischen Untersuchung beruhende Diagnose des MCAD-Mangels in einigen Fällen doch zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führt. In den meisten Fällen wurde und wird dabei zwar die bekannte häufigste Variante K329E homozygot oder eine andere bereits als schwer (engl. “severe”) bekannte Mutationskombination gefunden, aber dennoch gibt es Jahr für Jahr ein paar Kinder, bei den man aus den gefundenen Mutationen keinen endgültigen Rückschluss auf die zu erwartende Schwere bzw. Milde des MCAD-Mangels ziehen kann.  Die früheren Zeiten, in denen sich die Stoffwechselärzte in so einem Fall dann noch vor die Eltern stellten und sinngemäß sagten: “Ist mir doch egal, was ihr Kind hat! Es war im Screening irgendwie auffällig und jetzt wurden ja auch zwei Mutationen gefunden. Also haben Sie als Eltern bitte soviel Sorgen wie bei einem eindeutig schweren MCAD-Mangel und genauso wird ihr Kind für den Rest seines Lebens behandelt.” sollten dank der inzwischen sehr ausgereiften und sehr verlässliche Ergebnisse liefernden Residualaktivitätsanalyse endgültig vorbei sein.

Tatsächlich empfehlen inzwischen immer mehr Unikliniken als nächsten Schritt direkt nach einem immer noch auffälligen Konfirmations-Screening diese Analyse der tatsächlich verbleibenden Leistungsfähigkeit der MCAD-Enzyme – selbst Einrichtungen, die bis vor ein paar Jahren diese Untersuchungsmethode noch rigoros abgelehnt hatten. Manchmal müssen vielleicht auch erst ein paar zuständige Ärzte wechseln, bevor neuere und bessere Methoden etabliert werden können.

So hat sich durch die Residualaktivitätsanalyse schon oft gezeigt, dass Neugeborene mit einem zunächst scheinbar deutlich auf einen MCAD-Mangel hinweisenden Screening-Ergebnis (bei dem von ärztlicher Seite dann meistens gleich ein schwerer MCAD-Mangel in Aussicht gestellt wird), aufgrund der ermittelten sehr hohen Restaktivität von annähernd 50% dann doch nur Carrier sind, oder bei einer im mittleren Bereich liegenden Prozentzahl immerhin einen nur milden MCAD-Mangel haben, bei dem das Risiko für eine Stoffwechselentgleisung gegenüber der bekannten klassischen Variante extrem gering ist. Durch diese Untersuchungsmethode können heutzutage Kinder auch noch ein paar Wochen nach der Geburt sicher vom Verdacht des MCAD-Mangels befreit werden, während früher für viele Stoffwechselärzte bereits nach dem zweiten auffälligen Screening und spätestens nach dem Nachweis von zwei Mutationen – selbst wenn deren Signifikanz unklar war – der Würfel gefallen und der Drops gelutscht war.unterschiedliche Empfehlungen