Für andere Kinder im gleichen Alter gelten viel längere bzw. kürzere Nüchternzeiten. Kann bzw. sollte ich mich nicht auch nach denen richten?

Diese Frage wird mir oft von verschiedenen Teilnehmern der Facebook-Gruppe gestellt, weil dort anscheinend annähernd regelmäßig die Frage angesprochen wird, welche Nüchternzeiten für andere Kinder eines bestimmten Alters gelten. Auch im früheren Forum tauchte die Zeiten-Frage mit schöner Regelmäßigkeit auf, und nicht nur von ganz neu betroffenen Eltern. Mit jedem neuen Lebensjahr der Kinder schien es wieder aufs neue wichtig zu sein, einmal abzufragen, wie denn die Empfehlungen der anderen Stoffwechselambulanzen nun wieder aussähen. Ich hätte mir vielleicht mal die Mühe machen sollen, eine Tabelle für die von den verschiedenen Kliniken verteilten Empfehlungslisten zu erstellen, in der dann zeilenweise leicht erkennbar gewesen wäre, wie viele Stunden für die einzelnen Altersgruppen genannt werden. Aber ich glaube, selbst dann wäre diese Frage wieder und wieder gestellt worden. Das Interesse daran, ob man im Vergleich mit den an anderen SWAs betreuten Familien diesbezüglich besser oder schlechter gestellt ist, bzw. ob man die Empfehlungen des eigenen Arztes bestätigt sehen kann oder ob es in Einzelfällen vielleicht doch mal individuell an den Kindern ausgerichtete Zeiten gibt, ist einfach nicht zu unterdrücken.

Warum immer dieses große Interesse an den Nüchternzeiten anderer Familien?

Hintergrund war und ist meistens, dass die eigenen maximalen Nüchternzeiten noch so bemessen sind, dass man um eine Spät- oder sogar Nachtmahlzeit nicht herumkommt, diese aber gerne so langsam einstellen würde und deshalb herumfragt, wie das an anderen Stoffwechselambulanzen gehandhabt wird. Mit einer seitens der Klinik empfohlenen Nüchternzeit von 12 Stunden wäre das Auslassen einer zusätzlichen Mahlzeit schon drin, 10 Stunden würden nicht ganz ausreichen und mit sogar nur 8 Stunden wäre es vollkommen unmöglich. Im Vergleich zeigt sich dann, dass es Stoffwechselambulanzen gibt, deren Empfehlungstabellen bereits zweijährigen Kinder 12 Stunden in der Nacht zugestehen, während andere sogar während der ersten paar Grundschuljahre immer noch maximal 10 Stunden, teilweise sogar nur 8 Stunden empfehlen.

Die Tabellen mit Nüchternzeiten werden seit Jahren kaum weiterentwickelt

Woran liegt das? Wird mit dieser Bandbreite der Zeiten dem Umstand Rechnung getragen, dass Kinder nun mal unterschiedlich sind und dass deshalb für manche etwas kleiner oder sogar schwächlicher wirkenden Kinder kürze Zeiten und für besonders fit und wohlgenährt erscheinende Kinder dann gleich die vollen 12 Stunden zugestanden werden? Ganz und gar nicht! Die in den von einer Klinik an die MCAD-Eltern verteilten Tabellen genannten Zeiten sind für alle dort betreuten Kinder gleich. Um auf die individuellen Bedürfnisse eines Kindes einzugehen (schlechter Esser/guter Esser) wird den Eltern lediglich dazu gesagt, dass sie immer dann, wenn sie “das Gefühl haben”, dass die aufgenommene Energiemenge vielleicht etwas zu gering sein könnte, einfach mal etwas früher die nächste Mahlzeit anbieten. Im Klartext bedeutet dieses “wenn Sie das Gefühl haben” nichts anderes, als: “Wir als Stoffwechselambulanz haben hier so ‘ne Tabelle mit Zeiten, die wir vor einigen Jahren mal in irgendeinem Buch oder Artikel gefunden und abgeschrieben haben. Wir empfehlen ihnen, sich danach zu richten, aber letztendlich liegt die Verantwortung voll und ganz bei ihnen als Eltern. Wenn ihr Kind trotz Einhaltung der Zeiten in einen Energiemangel rutscht, hätte doch wohl vorher auffallen müssen, dass ihr Kind nicht genug zu sich genommen hat oder irgendeine Krankheit ausbrütet! Sie hätten ihm dann einfach in kürzeren Abständen Nahrung anbieten müssen”.

Das klingt jetzt vielleicht hart, ist aber genau so gemeint. Sollte einem Kind trotz Einhaltung der Zeiten etwas passieren, wird keine einzige Klinik dafür die Verantwortung übernehmen! Dann wird deutlich herausgestellt, dass die Tabelle nur gut gemeinte Empfehlungen und keinerlei ärztliche Anweisungen enthält.

Möge diese Situation niemals eintreten, aber wenn einem erstmal deutlich wird, welche Bedeutung die Stoffwechselambulanzen selbst der Verbindlichkeit dieser Zeiten im Ernstfall einräumen werden, zeigt sich um so deutlicher, dass die Verantwortung und deshalb auch die alleinige Entscheidungsgewalt bzgl. solcher Zeiten voll und ganz bei den Eltern liegt.

Die euch vorliegende Tabelle wurde aus der Schublade gezogen, weil man euch als noch unerfahrenen Eltern etwas an die Hand geben wollte, damit ihr überhaupt erstmal ein Gefühl dafür entwickeln könnt, wie regelmäßig euer Kind über die nächsten paar Jahre hinweg (in denen es noch nicht in der Lage ist, selbst auf die Signale seines Körpers zu achten) Nahrung zu sich nehmen sollte. Solange die Eltern in den ersten Monaten und manchmal auch Jahren noch voller Sorgen und Ängsten sind, ist so eine Tabelle mit “vermeintlich ärztlichen Anweisungen” tatsächlich etwas sehr Beruhigendes, weil es das Gefühl vermittelt, zumindest den Punkt mit den maximalen Mahlzeiten-Abständen nicht alleine entscheiden zu müssen.

Kommen wir aber zur eigentlichen Frage zurück. Warum sind es z.B. bei eurem Kind mit 4 Jahren noch 8 Stunden und bei einem Kind im gleichen Alter 10 und bei wieder einem anderen Kind sogar 12 Stunden? Einfach nur, weil ihr in der Uniklinik A betreut werdet, Kind 2 in Uniklinik B und Kind 3 in Uniklinik C. Würdet ihr näher an Uniklinik C wohnen und dort betreut werden und Kind 3 näher an Klinik A, hättet ihr jetzt schon die 12 Stunden auf dem Papier stehen und Kind 3 wäre erst bei 8. Würdet ihr dann denken, dass 12 Stunden für euer Kind doch ein bisschen sehr lang sein könnten, weil man den in Klinik A betreuten Kindern nur 8 Stunden zugesteht? Höchstwahrscheinlich nicht! Würden die Eltern von Kind 3 (mit jetzt nur 8 statt 12 Stunden) ihrerseits in Erwägung ziehen, dass sie die nächtliche Nüchternzeit auch genauso gut auf 12 Stunden ausdehnen könnten, weil sie das Kind aufgrund der 8 Stunden jede Nacht nochmal extra wecken müssen und es in anderen Kliniken ja auch geht? Sie würden es sich vermutlich wünschen, das von ihrem Stoffwechselarzt “genehmigt” zu bekommen, aber in ihrer getauschten SWA in Klinik A schaltet man auf stur und stellt ihnen ggü. klar, dass dies auf keinen Fall ginge! Acht Stunden seien momentan noch das höchste der Gefühle und wenn man das woanders anders sähe, hätten die dort einfach nur keine Ahnung und würden die Kinder einem viel zu hohen Risiko aussetzen!

Alles nur eine Sache des Zufalls

An diesem kleinen Tausch-Gedankenexperiment wird hoffentlich klar, dass es nur dem Zufall des jeweiligen Wohnortes geschuldet ist, dass Kinder gleichen Alters völlig unterschiedliche maximale Nüchternzeiten auf dem Papier stehen haben. Würden jetzt Kinder aus den SWA, in denen 12 Stunden in der Tabelle stehen, häufiger in eine Stoffwechselkrise geraten, als die Kinder aus den SWA mit 10 oder nur 8 Stunden, könnte man daraus ableiten, dass die 12 Stunden doch etwas zu hoch gegriffen sein könnten und die niedrigeren Zeiten deshalb “besser” seien. Das scheint aber nicht der Fall zu sein.

Deshalb kannst du genaugenommen machen, was du willst. Es liegt alles letztlich in deiner alleinigen Verantwortung, denn wie oben eingangs erläutert, wird auch seitens eurer SWA keinerlei Garantie für die Unbedenklichkeit der in ihrer jeweiligen Tabelle stehenden Zeiten übernommen werden. Es seid immer ihr als Eltern, die in jeder Situation nach bestem Wissen, Gewissen und mit ganz viel Bauchgefühl entscheiden müsst, wie ihr mit eurem Kind umgehen sollt.

Soweit zur Theorie! Rein praktisch werdet ihr gegenüber eurem Stoffwechselarzt mit der Anfrage, ob ihr nicht auch 12 Stunden Nüchternzeit in der Nacht einführen könntet, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf taube Ohren stoßen. Wie allen Ärzten wird auch ihm oder ihr völlig egal sein, was man anderswo macht, denn HIER empfiehlt man es nun mal so. Wenn sich Eltern nicht daran halten wollen, sei das ganz alleine ihre Verantwortung, wenn dem Kind dann was Schlimmes passiere! Na gut – das ist es sowieso, also was soll’s? So locker über den Dingen zu stehen und die Meinung des Arztes Meinung des Arztes sein zu lassen, ist aber natürlich nicht leicht, denn schließlich möchte man ja schon ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis beibehalten.

Deshalb hast du im Prinzip drei Möglichkeiten:

  1. Ihr macht weiter wie bisher und behaltet die von eurer SWA empfohlenen Zeiten bei – schlecht für die Nacht, aber gut fürs Gewissen!
  2. Ihr wechselt zu einer SWA, die längere Nüchternzeiten empfiehlt und lasst euch dort betreuen – gut für die Nacht und gut fürs Gewissen! Es kann natürlich sein, dass ihr zu einer solchen SWA einen ziemlich weiten Weg habt, sodass sich ein Umzug beinahe lohnen würde.
  3. Ihr stellt euch in Gedanken vor, ihr wärt in die Nähe einer SWA mit längeren Nüchternzeiten gezogen und würdet jetzt dort betreut und nickt immer mit unterdrücktem schlechten Gewissen, wenn euch euer eigener Stoffwechselarzt fragt, ob ihr mit den von ihm genannten Nüchterntoleranzzeiten gut hinkommt – gut für die Nacht, aber schlecht fürs Gewissen!

Welche dieser Möglichkeiten ich dir empfehlen würde? Verrate ich nicht! Mach doch, was DU willst!

Nüchternzeiten