Solltest du zu den Eltern gehören, deren Kind leider schon kurz nach der Geburt − meist schon vor dem Vorliegen des auf einen MCAD-Mangel hindeutenden Screening-Ergebnisses − eine erste Stoffwechselentgleisung erlitten hat, wurde dir vielleicht von einem Arzt mitgeteilt, dass ausgerechnet dein Kind an einer anscheinend ganz besonders extrem schweren Form des MCAD-Mangels zu leiden scheint. Mit dieser dann doch leider sehr unbedachten Äusserung eines davon völlig überraschten und sich meistens auch nicht sonderlich gut mit dem MCAD-Mangel auskennenden Arztes, wird den Eltern zusätzlich zu dem bereits erlittenen Schock auch noch in Aussicht gestellt, dass ihr Kind noch viel stärker als alle anderen in “üblicher Weise” vom MCAD-Mangel betroffenen Kinder gefährdet sei, weitere gefährliche Entgleisungen zu erleiden. Tatsächlich ist diese Behauptung aber an den Haaren herbeigezogen und beruht lediglich auf mangelnder Erfahrung des betreffenden Arztes hinsichtlich der verschiedenen Ausprägungen des MCAD-Mangels − wenn er denn überhaupt schon mal mit einem davon betroffenen Kind zu tun hatte. Wenn der Arzt nicht gerade Experte für den Schwerpunkt Stoffwechselstörungen bei Kindern ist, hat er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ohnehin noch nie zuvor vom MCAD-Mangel gehört, nur mal schnell ein paar Zeilen nachgelesen und dabei erfahren, dass schwere Stoffwechselkrisen früher zwar auch schon in den ersten paar Lebensjahren, aber selten so kurz nach der Geburt eingetreten sind (hängt auch damit zusammen, dass die Mütter früher auf den Säuglingsstationen sehr viel schneller und intensiver zum Zufüttern gedrängt wurden, um ein schreiendes Kind zur Ruhe zu bringen, wenn der Milcheinschuss noch etwas auf sich warten ließ und man heute mehr und mehr davon abkommt). Was läge also näher, als anzunehmen, dass es sich bei dem vorliegenden Fall somit um eine ganz herausragend schwere Störung der betreffenden Stoffwechselfunktion handeln muss − sonst wäre ja schließlich nichts passiert, oder?
Extrem schwerer MCAD-Mangel? – Extrem schwer übertrieben!
Unter einer “normalen”, also schweren Form des MCAD-Mangels, versteht man die Ausprägungen, bei denen die beiden von den Eltern an das Kind vererbten MCAD-Gene (Allele) einen so gravierenden Schaden aufweisen, dass der in ihnen enthaltene Bauplan für die Synthese des MCAD-Enzyms in beiden Kopien dermaßen stark beschädigt ist, dass entweder ein unvollständiges oder durch Fehlfaltungen funktionsunfähiges Enzym gebildet wird. Egal anhand welcher der beiden Genschablonen ein MCAD-Enzym zusammengebaut wird, es kommt immer nur Murks dabei raus. Insofern können beide bei dem Kind existierenden Formen von MCAD-Enzymen ihre Aufgabe der Aufspaltung der mittelkettigen Fettsäuren nicht erledigen und der Vorgang bricht an dieser Stelle ab. Welche Mutationen dabei an das Kind vererbt wurden und für diesen schweren Genschaden verantwortlich sind, ist dabei unerheblich. Letztlich läuft es immer auf das Gleiche hinaus − die MCAD-Enzyme haben keine Funktion und somit auch keine Restaktivität. Sobald diese Enzyme in der Verarbeitungskette zur Aufspaltung der Fettsäuren an die Reihe kommen, bricht dieser Vorgang ab, da die Enzyme ihre Arbeit nicht tun können.
Weniger als nichts geht nicht – und nichts ist “normal”!
Die am häufigsten, also bei den meisten Kindern mit MCAD-Mangel anzutreffende Mutationskombination K329E homozygot fällt genau in diese Kategorie. Es spielt dann auch keine Rolle, ob bei der Messung der Residualaktivität bei einem Kind glatte 0% und bei einem anderen Kind zufällig 1% oder 2% herauskommen. Wenn beide Kinder die schwere Variante K329E homozygot aufweisen, hat das Kind mit 2% keineswegs eine leichtere schwere Variante und das Kind mit 0% auch nicht eine noch schwerere schwere Variante. Während es bei einer Geldanlage über die Jahre hinweg sehr wohl einen großen Unterschied macht, ob der angelegte Betrag mit 0%, 1% oder 2% verzinst wird, sind hinsichtlich der Restaktivität eines Enzyms in diesem Wertebereich die geringen Unterschiede in den Prozenten völlig belanglos. Auch das ist eines der Themen, bei denen im Gespräch unter MCAD-Eltern keine Werte verglichen und diskutiert werden sollten.
Ich habe gerade in den letzten Jahren des früheren Forums, als zur Diagnose des MCAD-Mangels immer häufiger die Residualaktivitätsanalyse herangezogen wurde, schon viele Male erlebt, dass sich neue Teilnehmer mit dem Informationszusatz vorstellten “… und mein Kind hat einen schweren MCAD-Mangel mit 2% Restaktivität.” Worauf sich andere, ähnlich neue Teilnehmer veranlasst sahen, mit einem “bei meinem Kind sind es glatte 0% Restaktivität” zu antworten, woraufhin nicht selten eine Diskussion entstand, ob die 2% dann nicht doch deutlich besser oder die 0% noch wesentlich schlechter seien. Um dies mal mit einem ganz anderen Beispiel zu verdeutlichen: Wenn man einen kleinen Hunger verspürt, findet man in einem Supermarkt für 1€, also 100 Cent, zwar nicht viele, aber doch noch eine kleine Auswahl an Lebensmitteln, unter denen man wählen kann, um seinen Hunger zu stillen. Für 25 Cent findet man in den meisten Läden (vor allem den Discountern) immerhin noch eine billige Sorte Brötchen, die den gleichen Effekt haben. Aber ob man nun noch 2, 3 oder 4 Cent einstecken hat oder gar kein Geld mehr, ist völlig egal, denn dafür bekommt man heutzutage in keinem Laden mehr irgendetwas. Genauso verhält es sich mit den Residualaktivitäten. Ob es 0%, 1% oder auch mal 2% sind, ist oft schon dadurch zu erklären, dass die miteinander verglichenen Kinder halt doch nicht ganz genau die gleiche Mutationskombination aufweisen. Sind es bei Vorliegen der Variante c.985a>g/c.985a>g (also homozygot) meist unter 1% Restaktivität, können es bei der Kombination c.985a>g/c.233t>c aufgrund der minimal höheren Aktivität der zweiten Mutation auch mal 2% sein. Trotzdem sind beide Formen (und noch viele andere in dem untersten Wertebereich) als gleichermaßen schlecht und als eindeutig schwer zu bewerten. Vielleicht wurden die Analysen auch einfach nur in unterschiedlichen Kliniken durchgeführt, so dass leicht voneinander abweichende Referenzwerte zugrunde gelegt wurden. Würde die Untersuchung in einem anderen Kliniklabor wiederholt, könnten bei einem Kind mit zuerst 1% in der zweiten Runde auch 0% rauskommen oder umgekehrt. In anderen Wertebereichen, z.B. für die vermutlich milden MCAD-Varianten, verhält es sich ebenfalls so. Ob bei einem Kind 23% Residualaktivität oder 25% gemessen werden, ist ebenfalls unwichtig. Es geht nur darum, dass das bei dieser einen Untersuchung ermittelte Ergebnis eindeutig in einem Bereich liegt, von dem man annehmen kann, dass die betreffenden Kinder in schwierigen Krankheitssituationen − den bisherigen Erfahrungen zufolge − nicht in eine gefährliche Stoffwechselkrise gleiten werden.
Kleiner Einschub: die gerade genannten 25% hören sich immer noch nach wenig an, aber man muss dabei bedenken, dass im Körper eines Lebewesens Stoffwechselvorgänge immer in Regelkreisen gesteuert werden. Es gibt nicht eine feste Anzahl von Enzymen für die Fettsäuren mit bestimmten Längen, sondern sie werden ununterbrochen – je nach Bedarf – aus Aminosäurenketten erzeugt und auch wieder abgebaut. Wenn nach der Verkürzung auf mittelkettige Restlänge mehr dieser Fettsäuren in den Mitochondrien rumschwirren, als in kurzer Zeit von den momentan vorhandenen MCAD-Enzymen verarbeitet werden können, werden einfach noch ein paar mehr der betreffenden Enzyme gebildet. Bei milden Varianten, bei denen also mindestens eine der beiden Genkopien noch MCAD-Enzyme mit einer gewissen Restfunktion definiert, gibt es dann durch die gesteigerte Enzymproduktion zwar auch mehr MCAD-Enzyme, die gar nichts können (weil sie anhand des Gens mit der schwereren Mutation gebildet wurden), aber auch deutlich mehr MCAD-Enzyme mit der noch zum Teil vorhandenen Restfunktionalität, die dann entsprechend mehr mittelkettige Fettsäuren weiter verkürzen können. Diese Regelkreise haben natürlich auch ihre Grenzen, denn bei zwei Genkopien mit schwerer Mutation nützt es auch nichts, einfach mehr MCAD-Enzyme zu produzieren. Selbst wenn ihre Anzahl verfünffacht oder verzehnfacht werden könnte – 10 mal nix ist immer noch nix. Aber gerade bei Menschen mit mildem MCAD-Mangel lässt sich dadurch erklären, warum es trotz der insgesamt ja doch beträchtlich reduzierten Enzymaktivität so gut wie nie zu irgendwelchen Symptomen kommt, wie sie in den gleichen Situationen beim schweren MCAD-Mangel eintreten würden. Und bei heterozygoten Carriern, deren eine nicht betroffene Genkopie vollkommen intakte MCAD-Enzyme definiert, werden durch die automatisch gesteigerte Enzymproduktion auch davon wieder so viele Exemplare erzeugt, dass die mittelkettigen Fettsäuren problemlos weiter bearbeitet werden können.
Dass es bei manchen Kindern mit schwerem MCAD-Mangel dann doch so kurz nach der Geburt zu einer ersten Entgleisung kam und bei anderen nicht, hängt einfach von den Begleitumständen ab. Das eine Kind ist vielleicht ein Erstgeborenes, sodass es mit dem Milcheinschuss bei der Mutter einfach noch ein paar Tage dauerte und es daher in den ersten zwei Tagen kaum Nahrung zu sich nehmen konnte − bei einem anderen Kind ging es mit dem Stillen schneller. Eine Mutter hat vielleicht dem vehementen Drängen der Säuglingsschwestern nachgegeben und nach kurzer Zeit Neugeborenennahrung zugefüttert, während eine andere Mutter dies abgelehnt und weiter versucht hat, voll zu stillen. Ein Kind hat vielleicht eine Neugeboreneninfektion bekommen, für deren Bekämpfung sein Körper noch viel mehr Energie aufwenden musste, als ein anderes Kind, das soweit völlig gesund war.
Letzten Endes ist immer nur das unglückliche Zusammenspiel der Begleitumstände dafür verantwortlich, weshalb es bei einem Kind mit schwerer MCAD-Variante so schnell zu einer Entgleisung kommt und bei einem anderen Kind mit genauso schwerer Ausprägung nicht. Es liegt jedenfalls nicht daran, dass es noch viel schlimmere schwere MCAD-Ausprägungen gäbe und Kinder mit bereits kurz nach der Geburt erlittener Entgleisung sind im weiteren Leben auch keineswegs stärker gefährdet, als Kinder mit gleich schwerer Ausprägung, denen dieses Erlebnis glücklicherweise erspart geblieben ist.
Ganz abgesehen von diesen unterschiedlichen Erfahrungen in frühester Kindheit, entwickeln sich auch die heranwachsenden Kinder völlig individuell. Manche Kinder überragen beim Schuleintritt ihre gleichaltrigen Klassenkameraden schon um eine ganze Kopfhöhe, hören aber vielleicht bereits mit 14 Jahren auf zu wachsen, während es bei den bis dahin immer kürzeren Mitschülern noch für ein paar Jahre weiter geht. Bei einigen Jungen prägt sich eine deutlich tiefere Stimme schon mit 12 Jahren innerhalb weniger Wochen aus, während andere über Jahre hinweg vor sich hin quietschen und sich wieder andere noch mit 14 Jahren nicht viel anders anhören, als zu Grundschulzeiten. Genausowenig, wie man also Kinder ohne MCAD-Mangel hinsichtlich ihrer Entwicklung miteinander vergleichen kann, kann man solche Vergleiche bei Kindern mit schwerem MCAD-Mangel anstellen. Im realen Leben spielen immer eine ganze Menge unterschiedlicher Faktoren eine Rolle, wenn es darum geht, wie heftig unterschiedliche Kinder von einer Krankheitssituation beeinträchtigt werden oder wie schnell sie sich hinsichtlich Körpergröße und körperlicher oder geistiger Reife entwickeln. Ein Kind (ohne MCAD-Mangel) steckt jede Erkältung mit ein paar Tagen verstopfter Nase, ansonsten aber weitestgehend körperlich fit weg, ein anderes Kind (ebenfalls ohne MCAD-Mangel), das sich bei dem ersten Kind mit dem gleichen Erreger angesteckt hat, liegt dagegen ein paar Tage flach und fühlt sich von der Erkältung völlig ausgelaugt. Oftmals spielen dabei auch weitere gesundheitliche Faktoren eine Rolle, denn auch wenn bei einem Kind frühzeitig ein MCAD-Mangel diagnostiziert wurde, bedeutet dies keineswegs, dass nicht noch irgendwelche anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei ihm vorliegen können, die nur noch nicht gefunden wurden. Insofern könnte man zwar tatsächlich behaupten (das machen auch manche Ärzte), dass auch kein schwerer MCAD-Mangel wie der andere ist − tatsächlich ist jedoch die hinter dem schweren MCAD-Mangel steckende Funktionsstörung bei allen davon betroffenen Kindern identisch (weniger als nichts geht nicht), aber durch die bei allen Kindern vollkommen individuellen Begleitumstände, können die im tagtäglichen Leben zu beobachtenden Auswirkung des gleichen schweren MCAD-Mangels ganz unterschiedlich und zum Teil halt auch viel deutlicher ausfallen. Im Artikel “Woher kommt der MCAD-Mangel” wird im Abschnitt “Aus dem Genotyp folgt nicht der Phänotyp” noch einmal auf diesen Umstand eingegangen.